Die unvollendete Utopie: Das souveräne Individuum
Selbstermächtigung kann man sich nur selbst verordnen. Die Werkzeuge der Befreiung haben wir bereits in der Hand.
Dies ist Teil 2 der Serie “Morgenröte der Freiheit”. Teil 1 lesen Sie hier. Unsere Dokumentation “Pandamned” können Sie hier runterladen und hier ansehen, mit Untertiteln in nunmehr fünf Sprachen.
Wie fängt man Affen? Nach einer afrikanischen Geschichte so: Man lege Reiskörner in Felsspalten, in welche die Hand des Affen gerade noch hineinpasst, wenn sie leer ist, jedoch nicht mehr, wenn sie mit Reis gefüllt ist. Unwillig die Beute aufzugeben, hängt der Affe an der Kette der eigenen Gier. Laienpsychologisch würde man sagen, da hat jemand Probleme mit dem Loslassen.
Wie fängt man Menschen? Man bindet sie fest an das Bestehende. An ein Gebiet. An Staatsangehörigkeit. An eine örtliche Arbeitsstelle, die einen in der Nähe liegenden Wohnort impliziert. An Regulierungen. An Erwartungen. An Komfort. Der Affe hält den Reis in der Hand und kommt nicht los. Der Mensch hängt am Status Quo fest. Bevor er etwas ändert, muss viel passieren. Denn mit Veränderung kommt die Angst vor dem Verlust des Bestehenden. Um nichts zu ändern, erfindet er sich Geschichten der Beruhigung und Bestätigung: die Rationalisierungen. Das letzte Gefängnis ist der Kopf. Der Weg zur Selbstgestaltung des Lebens verlangt nach der ersten Flucht aus dem geistigen Gefängnis. Dies wird landläufig als «aufwachen» betitelt.
Prometheus losgelöst
Wer sich und seine Situation schonunglos bewerten kann, gewinnt Souveränität über die Realität, die, so hart sie auch sein mag, einen doch trotzdem vor wählbare Handlungsoptionen stellt. Wer diese Anstrengung kognitiver Art nicht erbringen will oder kann, verdient dann auch nur den Status Quo. Die Status Quo-Neigung des Menschen ist ein kognitiver Defekt, der aber irgendwo seinen evolutorischen Sinn haben mag. In Momenten der eintretenden Katastrophe kann diese Haltung plötzlich umschlagen in geschäftige irrlichternde Handlungen (Aktivismus-Verzerrung). Wenn er muss, handelt der Mensch plötzlich. Trägheit schlägt in eine Handlungskaskade um.
Widerstand ist das Gefühl der Reibung an der Gegenwart, eine innere Sperre gegenüber den Umständen. Doch es ist noch keine aktive Neu-Positionierung, die einen in den Modus des Gestalters versetzt. Widerstand ist Anpassungsschmerz, bedeutet Bremsspuren, sorgt für eine Neukalibrierung der Gedankengänge und schließlich für eine Neuausrichtung der Lebensenergien.
Spätestens jetzt ist der Aufgewachte und gedanklich Neukalibrierte bereit für die Stufe des Handelns. Er ist bereits mental an seinem Ort. Er weiß jetzt zumindest, wem er sich nicht zugehörig fühlt und wovon er sich abgrenzt. Er fängt an, die Landkarte seiner Optionen neu zu vermessen. Er wird Feldherr und Stratege auf dem Schachbrett des eigenen Lebens. Er fängt an, sich in den Gegner hineinzuversetzen, die eigenen nächsten Schritte von den Schritten des Gegners abhängig zu machen. Das sind dann zum Beispiel
Von der Vorbereitung zur Handlung
Wer weiß, was er nicht will, weiß zwar noch nicht unbedingt, was er will. Man kann jedoch grob drei Haltungen oder Aggregatszustände unterscheiden, mit der man der Welt ab diesem Moment begegnen kann.
Robustheit
Robustheit bedeutet, dass einem ein Umstand nichts anhaben kann. Man reagiert auf ein äusseres Ereignis unverändert. Man ist etwas ausgesetzt, aber doch eher unbehelligt. Man positioniert sich so, dass die Dinge an einem abprallen. Robustheit kann auch Teflonartigkeit bedeuten. In Erwartung einer Überschwemmung richtet man sich in höheren Bergregionen ein.
Resilienz
Resilienz ist Wehrhaftigkeit: Ein Umstand erreicht einen, man ist jedoch vorbereitet. Man kann dadurch abmildern, wie stark man selbst durch etwas in Mitleidenschaft gezogen wird. In Erwartung einer Überschwemmung baut man einen Wall oder Deich.
Antifragilität
Dies ist die Meisterklasse. In der Kategorie der Antifragilität ist man so positioniert, dass man von den geänderten Umständen sogar profitieren kann. Der Begriff stammt vom Buchautor und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb (“Der schwarze Schwan”, “Antifragilität” etc.) und beschreibt Konstellationen, in denen Chaos eine Kräftigung bewirkt und scheinbar Negatives sich ins Positive kehren lässt. Beispiel: Fasten wirkt auf den ersten Blick wie eine Schwächung des Körpers, kann aber heilsam sein.
Kataklystische Ereignisse gab es in der Geschichte immer wieder. Naturkatastrophen, wie das Erdbeben von Lissabon 1755, hat die Zeitgenossen tief beeindruckt und zum Nachdenken gebracht. Ähnliches galt für Seuchen, Kriege, Hungerkatastrophen. Laut den Historikern Neil Howe und William Strauss steht alle 70 Jahre ein solches Event an. Sie sprechen für die kommende Zeit von einer Vierten Wendung («Fourth Turning»). Diese zyklische Geschichtsauffassung bedeutet nicht, dass sich Geschichte wiederholt, sondern versucht anhand der Konstitution einer Generation (ist diese gestaltungsstark oder gestaltungsarm?) die generationelle Reaktion auf bestimmte Ereignisse vorherzusagen.
Die GI-Generation («Great Generation») zog aktiv in den Krieg gegen Hitlerdeutschland, mit einer mehr als abenteuerlichen Landung in der Normandie. Die Generation der Millennials oder Generation Z von heute empfindet es schon als halbe Zumutung, mehr als 15 Minuten im Restaurant auf das Essen zu warten oder eine neue App zu installieren. Die Generation vor ihr («Babyboomer») kannte eine lange Zeit von Wohlstand, Frieden und Amüsement. Von 1950 bis 2020 waren es genau 70 Jahre. Ist es Zeit für die nächste Wendung? Eine solche Wendung bestimmt die Zeitrechnung neu, sie unterscheidet in ein vorher und nachher. Der WEF-Präsident Klaus Schwab sagt, dass es keine Rückkehr mehr zur alten Normalität geben wird. Ist der «Great Reset» im Zuge der Corona-Pandemie ein solches kataklystisches Event?
Die aktuelle Herausforderung
Wir erleben seit ein paar Jahren eine Häufung von Katastrophenereignissen: Von Terror, Klima- oder Finanzkrise ging es sehr unvermittelt zum Cluster: Pandemie, Notstandsregime, Lockdown, Impfzwang, Zertifikatspflicht, Lieferkettenunterbrechungen, Krieg, Inflation, Rationierung von Lebensmitteln, Drohung mit Nahrungsmittelknappheit, Blackoutgefahr. Die Welt wirkt wie in den Modus der sieben (oder auch zehn) biblischen Plagen versetzt. In der «Offenbarung des Johannes» kommen die zehn Plagen als Strafe für die Übernahme des «Zeichen des Tieres» durch die Menschen über die Menschheit. Wer sich der Welt des Bösen andient, verwandelt die Welt in die Hölle, aus der es dann wieder einen Befreier braucht. Man kann dieses Befreiungsmuster auch ausserhalb des biblischen Kontexts stellen: Die Geschichte des Menschen ist die ewige Geschichte der Sklavenbefreiung. Der Grad der Versklavung ist über die Jahrhunderte in allen Schattierungen gegeben, vom Galeerensklaven zum modernen Lohnsklaven.
Der Freiheitszustand ist in der Geschichte der Menschheit stets die Ausnahme, vielleicht sogar unerreicht. Der Mensch floh aus Feudalsystemen wie Kirche, Kaisertum, Diktatur, nur um in einem Techfeudalismus zu landen, der als Verheißung von Freiheit im Mantel von Smartheit, Mobilität und Ungebundenheit daherkam. Seit Jahren lässt sich erkennen, dass Smartphone-Nutzung, soziale Medien und Internetnutzungsverhalten letztlich die Fütterung einer Datenindustrie gegen «freien Zugang» zu bestimmten Dienstleistungen bedeutet. Wo wir nicht Kunde sind, sind wir das Produkt. Wir werden datenmäßig schon länger «gefarmt». Gegenüber den Techgiganten sind wir virtuelle Schafe, die auf Pixelwiesen grasen und dafür regelmäßig geschoren und gemolken werden. Wir sind kollektiv in eine Honigfalle getappt.
Aus der Summe der Honigfallen hat sich ein System etabliert, welches auf Delegation durch Komfort beruht. Dateneigentum gilt juristisch als umstritten. Das Eigentum an den eigenen Organen auch über den Tod hinaus soll in der Schweiz nach dem neuen Transplantationsgesetz in Zukunft eine Frage der aktiven Zustimmung (“Opt out”) sein. Schon jetzt gilt in vielen Ländern etwas ähnliches für das Eigentum nach dem Tod. Wer keine aktive testamentarische Zuordnung trifft und ohne Erben verstirbt, beschenkt den Staat.
Das System um uns herum lebt von der Trägheit der Individuen und fördert daher auch eher diese, statt die Befähigung zur aktiven Gestaltung des Lebens. Die Eingriffssphäre des Staates und großer Konzerne ist so groß, wie man sie werden lässt. Das Aufhalten des Fremdzugriffs setzt als Preis mindestens voraus, dass man Komfort aufgibt. Wer sich dem Komfort dagegen hingibt, gibt sich selbst auf. Auf dem Zeitstrahl der technologisch-bürokratischen Machtergreifung stehen wir gerade an einem Schlüsselmoment.
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Dieser Schlüsselmoment ist dadurch gekennzeichnet, dass bisher jede Preisgabe von Freiheit für Komfort ohne spürbaren Nachteil geschehen ist. Das heißt: Der Preis für Komfort lag bei Null. Dies könnte sich nun mit einem Schlüsseldreh verändern. Das System der Überwachung könnte scharf gestellt werden. Aus der Summe der freiwillig aufgegebenen Souveränität über die eigene Datensphäre wird ein Gefängnis, eine freiwillig gewählte, digitale Knechtschaft. Die Welt als Gefängnis mit virtuellen Gitterstäben. Der Begriff dafür lautet «schlüsselfertiger Totalitarismus». Es ist genau das System, vor dem Assange, Snowden etc. seit gut zehn Jahren warnen.
Der Ausweg aus der Misere der Techversklavung kann ohne Verständnis und Anwendung neuer technologischer Mittel kaum erfolgen. Ein anderer Weg wäre die globale Selbstkappung aller Leitungen, welche das Techsystem alimentieren. Das geht kaum, da es längst zu einer Konvergenz von Techalimentation und Eigenalimentation gekommen ist. Der Strom für das System ist auch der Strom für die Daseinsvorsorge. Alles abzustellen hieße den Körper zu töten um die Krankheit zu besiegen. Doch es gibt auch noch eine andere Deutung für die Versklavung von Big Tech.
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