Drei Wochen „Appell für freie Debattenräume“ – eine Zwischenbilanz
Gibt es die "Cancelculture" und wenn ja, wie viele? Über lustiges Hakenschlagen und die Überwindung erster Hürden. Unterstützen Sie den Appell weiter so aktiv!
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Drei Wochen ist der Appell für freie Debattenräume jetzt alt. Drei Wochen, in denen Gunnar Kaiser und ich uns manchmal vorkamen, wie Boten im Untergrund, die zwischen den Schützengräben verfeindeter Parteien zu vermitteln versuchen. Drei Wochen, in denen einige Erstunterzeichner unelegant unter Druck gesetzt wurden, die Liste wieder zu verlassen. Wir hatten in der ersten Woche mehrere Hackingangriffe. Der Hostingservice unserer Seite wurde auch mit seltsamen Vorwürfen konfrontiert. Unser Techniker arbeitet unter Hochdruck.
Und wir haben einige seltsame Unterzeichner, die uns wohl schaden wollen. Allein drei mal hat ein gewisser Adolf Hitler unterschrieben, mal als „Entrepreneur“, mal als „Diktator“, mal als „gecancelter Postkartenmaler“. Seltsam, wir hatten ja gedacht, er war zuletzt Schichtleiter in einem VW-Werk in Argentinien. Nun ja. Drei Wochen sind es aber auch, in denen etwas aufbrach. Zuerst hiess es, die „Cancel Culture“ gäbe es gar nicht. Inzwischen heisst es, es gäbe sie wohl – aber von rechts. Sogar ein Jan Böhmermann sieht sich nun als Opfer. Ein Interview in der FAZ ist nicht gedruckt worden. Skandal? Die Debatte schlägt mitunter lustige Haken. Es wäre schön, wenn man sich einmal entscheiden würde, denn es wird Zeit, das Problem anzugehen. Und das geht nur mit Dialog.
Weg vom Reden, hin zum Tun
Es ist viel geschrieben und gesendet worden in den letzten Wochen. Eine Auswahl der Beiträge geben wir hier wieder, und natürlich nehmen wir auch (bzw. vor allem) die kritischen Beiträge ernst. Bevor wir die Trennwände niederreissen, müssen wir wissen, woraus sie gemacht sind.
Man muss nach drei Wochen aber auch sagen: wenn das alles ist, sind es bisher eher putzige Scharmützelchen, die wir uns in der deutschen Debatte liefern. Ein erwartbares kleines Rauschen im Blätterwald, das vielleicht noch weitergehen wird, vielleicht auch nicht. Am Ende wird man den Appell nur als Erfolg werten können, wenn wir etwas bewegen. Wir sind einige Schritte weiter, aber noch nicht wirklich im Dialogstadium angekommen. Und sicher: es mutet etwas abstrus an, wenn die “üblichen Unverdächtigen”, wie zB. Sascha Lobo im Streitgespräch mit Ulf Poschardt, über die vermeintliche Nichtexistenz eines Phänomens in den einschlägigen Sendungen sinnieren, an dem sie selbst beteiligt sind oder waren.
Lobo hat mit einigen anderen Autoren einen Brief an den Rowohlt Verlag (mit)verfasst bzw. unterzeichnet, mit der Aufforderung, die Autobiographie von Woody Allen zu canceln. Der deutsche Verleger hat sich geweigert, der amerikanische ist eingeknickt. Beim eigenen Geldbeutel hörte das Engagement allerdings auf: keiner der Unterzeichner hat dem Rowohlt Verlag offenbar den Rücken zugekehrt. Man ist also gerne moralisch, aber eben nicht in letzter Konsequenz. Verschont doch in Zukunft eure Verleger mit Post und handelt nach eurer Gesinnung: Put your money where your mouth is!
Während wir also über Begrifflichkeiten streiten und darüber, ob der Appell an mancher Stelle vielleicht doch zu harsch formuliert ist, kann man nur kopfschüttelnd nach Amerika blicken. 600 Unterzeichner richten sich dort explizit gegen Steven Pinker, einen bekannten Harvard-Psychologen, und im Grunde unverdächtigen Linksliberalen. Man ruft die LSA, die amerikanische Linguistenvereinigung, auf, ihn aus ihren Reihen zu entfernen, wie Quillette dokumentiert. Wir lassen uns also gerne den Vorwurf gefallen, etwas zu früh alarmistisch zu sein, wenn es hilft, derartige Zustände zu vermeiden. Wir müssen nicht erst warten, bis wir bei der kleinsten Differenz des Konflikts angekommen sind. Better safe, than sorry.
Interessant ist auch, dass im Zuge der Debatte immer neue, mal mehr mal weniger prominente Namen wieder hochgespült werden, die man eigentlich schon etwas vergessen hatte. Der Philosoph Peter Singer zum Beispiel ist seit Jahren ein bekannter ausgeladener Eingeladener. Kennt jemand noch Thor Kunkel? Einst hochgelobt in den Feuilletons als neue Literaturhoffnung, dann irgendwann als rechts gelabelt. Heute publiziert er im “Kopp Verlag”. Aber er darf noch schreiben, antworten dann die einen. Ja, sicher darf er. Aber das würden manche auch noch sagen, wenn er die Texte danach in die Schublade legen würde. Jedem ist klar, dass ein Kopp-Autor raus ist aus den Feuilletons. Und erging es Christian Kracht nicht ähnlich, dem Georg Diez im Spiegel mal versuchte, eine Nähe zu faschistischem Gedankengut zu unterstellen? „Kritik” sei das, heisst es dann oft. Oder „PR“, wenn das missglückte Cancelling auf die Canceller zurückschlägt. Zu den verschiedenen Meinungssträngen in der Debatte in Kürze mehr. Nur so viel: Viele Argumentationsmuster halten einer näheren Überprüfung nicht stand.
It´s the principles, stupid!
Zwei Beiträge möchte ich hier besonders hervorheben. Alexander Wendt von Publicomag/Tichys Einblick (und ebenfalls Erstunterzeichner) hat die letzten Wochen scharfsinniger zusammengefasst, als ich es hier könnte und die Auseinandersetzung mit dem Appell genüsslich aufgespiesst:
Die leicht schlingernden Argumentationslinien lauten also: Cancel Culture existiert nicht; dort, wo Leute wegen eines falschen Tweets gefeuert oder Künstler wegen vager Gewaltgerüchte wieder ausgeladen werden, geschieht das ohne Druck. Und wenn doch ein bisschen Druck dabei war, dann war das Hobeln und Zerspanen eben nötig im Kampf des Guten gegen das Weltböse. Wer sich dagegen ausspricht, vertritt „rechte Positionen“, auch wenn er ein Linksliberaler ist, der noch einen finalen Rettungsanruf von der Süddeutschen erhält. Eigentlich wären das schon Narrative genug. Aber wer wirklich Haltung zeigen will, braucht noch eins: Die Beweisführung, dass es Cancel Culture doch gibt – nämlich von rechts. Um diese Engführung bemühte sich kürzlich bento, das letzte Kinderaufgebot des Spiegel.
Kritisch mit dem Artikel der Süddeutschen Zeitung (der uns vermutlich mehr genützt als geschadet hat, auch wenn Alexander Kluge nun nicht mehr in unseren Reihen ist), setzt sich Ben Krischke in „Meedia“ auseinander.
Aus seinem Beitrag spricht der Geist der Prinzipien, um die es uns geht:
Dass etwa ein Thilo Sarrazin erfolgreiche Bücher schreibt, ist das eine. Dass er nur unter Polizeischutz auftreten kann, etwas ganz anderes. Gleiches gilt für den Islamkritiker Hamed Abdel-Samad. Dass Lisa Eckharts Popularität zuletzt gewachsen ist, ist das eine. Dass man für ihre Sicherheit nicht garantieren will, das andere. Dass Mathias Döpfner seine Meinung weiterhin äußern wird, ist das eine. Dass ihm sogar der Deutsche Journalisten Verband in den Rücken fällt, etwas ganz anderes.
Und weiter:
Lassen Sie uns streiten, meinetwegen heftig. Aber streiten sollten wir. Und vielleicht haben Initiativen wie der „Appell für freie Debattenräume“ ja ihren Anteil daran, dass die Debatten hierzulande – online wie offline – wieder stärker auf einer sachlichen Ebene geführt werden. Es wäre wünschenswert. Deshalb habe ich den Appell unterzeichnet. Und dafür muss ich nicht mit allen Unterzeichnern in allen Belangen einer Meinung sein.
Willkommen neu auf der Liste
Schauen Sie in die Liste der Erstunterzeichnenden. Ich denke, ein heterogeneres Umfeld kann man sich kaum wünschen. Aber eine Feelgood-Liste sollte es auch nicht sein, von Anfang nicht. Es geht auch darum, mit Gesicht und Namen zu zeigen, dass man sich gegenseitig “aushält”. Ist das, liebe Süddeutsche Zeitung, nicht Toleranz? Zeit also, in den Dialog zu treten, so wie es im Kleinen schon begann, u.a. hier mit Erstunterzeichner Götz Aly im NDR. Wir strecken die Hände aus und denken gerade verstärkt über Formate nach, in welchen man die Debatte abbilden könnte. Vom Reden hin zum Handeln. Wir müssen wieder ran an die unmöglichen Debatten, wie es Gunnar Kaiser in einem seiner letzten Videos gefordert hat:
Denn wie heisst es so schön: Man kann über Meinungsfreiheit reden – oder man hat sie.
Wir haben nun die Schallmauer von 100 Erstunterzeichnern überschritten. Über 16 000 Menschen aus unterschiedlichsten Berufen (Reinigungskraft, Professor, Schauspieler, Pianistin, etc) haben ebenfalls unterschrieben. Wir sehen ein breites Spektrum von Menschen vor uns, denen die Demokratie nicht egal ist und die sich auch von negativer Berichterstattung nicht abhalten lassen, den Appell zu unterzeichnen. Mut ist ansteckend. Danke allen dafür. Jetzt heisst es: alle Kräfte mobilisieren!
Eine besondere Welle der Sympathie schlägt uns aus der klassischen Musik entgegen. Star-Geiger und Hochschullehrer Linus Roth unterstützt uns ab jetzt tatkräftig. Wir haben zudem einen tollen Designer für Logos und Motive. Viele helfende Hände und Vernetzungsangebote im Internationalen erreichen uns ebenfalls.
Da wir längst nicht mehr nachkommen, alle möglichen Prominenten selbst anzuschreiben, rufen wir Sie auf, selbst aktiv tätig zu werden. Wenn Sie einen prominenten Kontakt haben, schreiben Sie ihn an, geben Sie den Link auf den Appell an (www.idw-europe.org) und unsere Kontaktdaten: kontakt@idw-europe.org. Wir onboarden dann auf unbürokratische Weise.
Das ist nicht „unser“ Appell. Das ist der Ihrige. Und am Ende ist der Appell das, was wir alle aus ihm machen.
Herzlich willkommen neu auf der Liste der Erstunterzeichnenden!
Andreas Rebers (Künstler)
Elisabeth Neumann (Journalistin)
Max Weissenfeldt (Musiker, Unternehmer)
Michael Kroker (Journalist, WirtschaftsWoche)
Fabio von Witzleben (Journalist, Rubikon.news)
Ben Krischke (Journalist, u.a. Meedia)
Volker Zotz (Philosoph, Buddhologe)
Petra Johanna Barfs (Bildende Künstlerin)
Georg Meggle (Professor für Philosophie, Universität Leipzig)
Maria-Sibylla Lotter (Professorin für Ethik, Universität Bochum)
Ulrich Weinzierl (Germanist und Journalist)
Julia Neigel (Musikerin, Produzentin)
Peter Stachel (Historiker, Mitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften)
Stephan Winkler (Komponist und Prof. für Musiktheorie und Komposition)
Ich halte das Ansinnen für überfällig.
Meine Befürchtung: wir landen wieder in einem Auental ausmäandernder (Aus-)Flüsse aus Meinungen, Überzeugungen, Ideologiewahnsinn und Egoismen. Allesamt reißender als Fakten und Realitätsbezug, weil niemand die eine, entscheidende Frage mit „Ja!“ beantworten will: „Bist Du grundlegend und überhaupt bereit, in einer Diskussion, Deine Meinung zu überdenken und/oder gar zu ändern“?
Alles gezeugt von der unheiligsten Allianz der Neuzeit. Der des allgegenwärtigen, laut schreienden medialen Terrors und der des Nicht-Gehört-Werdens. Es ist eine individuelle Vergewaltigung, die jedes Bewusstsein für die Stärke und das Potenzial der eigenen Meinung ersticken lässt.
Jede Debatte verkommt unweigerlich zu einem Schauplatz der Folgen genau dieser psychologischer Folter vergangener Jahre.
Solange wir keine Kanäle gestalten, auf denen sich Öffentlichkeit schaffen lässt, um die uns vererbten Dränge nach Mitteilung und Bühne erst einmal zu befriedigen, und ich meine damit keine Wichsvorlagen, sondern ehrliche mediale Angebote, wird immer wieder eine soziale Brache zurückbleiben, wie nach jeder moralinsauren Flut der Empörungen.
Doch ich hoffe, es möge gelingen und kann dazu beitragen.
Es gibt keine Cancel culture. Es handelt sich um eine Unkultur, nicht um eine Kultur.