Die Dualität der Dinge
Auch in der Pandemie wird ein Kampf Gut gegen Böse ausgetragen. Doch man muss mit dem Spielverderber der Dialektik rechnen.
Von Heinrich Heine ist eine schöne Passage in einem stundenlangen Gespräch mit den Schriftstellern Eugène Sue und Honoré de Balzac überliefert, in welcher sich die drei luziden Geister über die beste Regierungsform austauschen. Heine gibt Folgendes zum Besten:
«Es ist mir aufgefallen, dass der Tag von vierundzwanzig Stunden aus Tag und Nacht besteht. Zwei Kontraste. Der Tag ohne die Nacht, so schön er auch sein mag, würde sehr unbequem sein. Ebenso die Nacht ohne den Tag. Es ist mir weiter aufgefallen – da bin ich schon bei der Sündflut -, dass zum Kinderkriegen zweie nötig sind, ein Mann und eine Frau, besonders eine Frau. Wieder zwei Kontraste, die sich ab und zu einigermaßen harmonisch verbinden. Des weiteren habe ich beobachtet, um ein gutes Geschäft zu machen, braucht der Schlaukopf einen Dummen. Zwei Dissonanzen – so sagte mir, glaube ich, Berlioz, denn mit Meyerbeer bin ich verkracht – ergeben stets eine Harmonie, und der vollkommene Akkord setzt sich zusammen aus einer Terz, einer Quinte und einer Oktave. Bei der Liebe, behaupten die Kabbalisten, soll dasselbe Mysterium walten. Es soll sogar eine Farbentonleiter geben. Kurz, alles was von Dauer, was zum Vergnügen da ist, besteht aus Kontrasten. Genau so, liebe Freunde, steht es mit Republik und Monarchie. Nicht die oder die andere, sondern die eine und die andere, beide zusammen. Die eine und die andere mögen noch so sehr Dissonanzen sein – miteinander verbunden ergeben sie einen vollkommenen Akkord. Was wir brauchen, ist eine Republik, geleitet von Monarchisten, oder eine Monarchie, beherrscht von Republikanern. – Ich habe mehr als zweihundertfünfzig unwiderlegliche Beweise für meine These; sie hat nur einen Fehler: sie riecht nach Eklektizismus. Aber ich muss aufhören. Ich habe eine Frau, oder vielmehr: meine Frau hat mich. Sie wird mir nie glauben, dass ich anderswo mit Genies frühstücke. Ich muss heim, aber ich darf Sie hoffentlich bald einmal bei mir sehen. Wir werden die Republik ausrufen. Balzac wird Präsident, Sue Generalsekretär. Ich bringe Ihren Ruhm in deutsche Verse, denn einem Romanschriftsteller werden die Franzosen nie politisches Genie zugestehen. Meyerbeer wird die Verse in Musik setzen, und der kleine Weill mit seinem Heldentenor wird sie singen.»
Dualität als Monotonie
Dualität und Dissonanz: zwei Elemente können zusammen gedacht und doch getrennt sein und in der Summe ein Ganzes ergeben. Gegenspieler sind bei Heine kein Widerspruch, sondern eine Ergänzung. Sonne und Mond, Licht und Schatten, linke und rechte Gehirnhälfte, Tag und Nacht, Mann und Frau, schwarz und weiß, Yin und Yang. Das duale Denken findet sich auch in den Ideen der Aufklärung mit ihren vielleicht unausweichlichen Verirrungen und Umwegen. Das Denken in Differenzen bringt Licht ins Dunkle und verdunkelt doch zugleich wieder etwas anderes. Descartes brachte das Kind des aufklärerischen Denkens per Kaiserschnitt der binären Differenz zur Welt; die Dialektiker Hegel und Marx zogen es auf; die Ideologen des 20. Jahrhunderts verzogen und vulgarisierten es und gerade stirbt es an (oder mit?) Covid.
Dualität ist heute wieder nur eine Trennlinie. Der aktuelle Zeitgeist erfindet Dualität als Monotonie. Wer A sagt muss auch B sagen, darf aber keine Aufzählung beginnen, sondern muss eine Differenz ausdrücken. Du bist nicht dafür? Dann bist du dagegen! Der Januskopf aus der römischen Mythologie brachte noch Anfang und Ende vereint zum Ausdruck, seit Luhmann schaffte man ganze Gesellschaftsmodelle aus der reduzierten Computerlogik von 0 und 1. Das Recht? Nichts weiter als der Code «gerecht» und «ungerecht». Die Wissenschaft? Nichts weiter als «wahr» und «falsch». Für die Moral wusste schon Wilhelm Busch bestens binär Bescheid: «Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man lässt.» Fehlt eigentlich nur noch die Vollendung der kybernetischen Machtübernahme, wie sie sich schon in der Unterscheidung von «geimpft/ungeimpft» ankündigt, um irgendwann in der Frage von Sein und Nichtsein ihren Höhepunkt zu finden.
Der manichäische Kampf Gut gegen Böse: Man hat ihn in Mozarts «Zauberflöte» bestaunt und in Filmen, wie «Krieg der Sterne» als Kampf «hell gegen dunkel» stilisiert, er gehört zu jeder unterhaltenden Dramaturgie oder persönlichen Heldenreise dazu. Und natürlich gehört er auch zum Corona-Drehbuch, was auf den medialen Ursprung der Krise verweist: Kritiker gegen Befürworter, Coronazis gegen Querdenker, Mainstream gegen Alternativmedien, «die Wissenschaft» gegen Covidioten, Wodarg gegen Lauterbach.
Die mediale Vereinfachung ist ein Sündenfall des Denkens, unterschlägt es doch genau die Dynamik, an welche uns schon die Zauberflöte erinnern will, wenn sie uns im Unklaren darüber lässt, wer nun wirklich gut und wer böse ist. Am ehesten hat man wohl Klarheit, wenn man nicht von statischen Bildern ausgeht, sondern sich damit abfindet, dass man stets nur in ein Kaleidoskop blickt. Nur wer sich im kaleidoskopischen Blick übt, öffnet sich neue Realitätskanäle. Und sowohl das Gute als auch das Böse sind gemischte Aggregate, es sind Verbindungen, die es in Reinform so gut wie nicht gibt.
«Es ist ein Kult!»
Die Debatte über Corona kommt auch deshalb nicht weiter, weil sie nicht darf. Sie hängt im Geburtskanal fest, im Niemandsland des Debattenraums, eingeklemmt zwischen den beiden scheinbar unüberwindbaren, monotonen Meinungssilos von Mainstream und Antimainstream. (Irgendwo auf dem Todesstreifen zwischen beiden habe ich mir dieses publizistische Gewächshaus gebaut; das Schicksal des gebürtigen Schlesiers ist eben die des Grenzgängers und ewigen Nirgendsdazugehörers).
Meinungssilos, harte Diskurswände und starre Dogmen: Das ist das Material aus dem «Kulte» gemacht sind. Und man kann aus jeder Thematik einen Kult entstehen lassen, sogar aus der Freiheit. Wieso also nicht auch aus dem Thema Gesundheit? Gunnar Kaiser schreibt in seinem soeben erschienenen Buch «Der Kult. Zur Viralität des Bösen», um welche Art von Kult es sich hierbei handeln könnte. Er sieht einen globalen Opfer-, Schuld- und Todeskult am Werk:
«Nun zeigen sich die Geister am Teich. Sie versprechen uns: Wenn wir das alles untergehen lassen und opfern - freie Märkte, freies Unternehmertum, Wirtschaftswachstum, liberale und offene Gesellschaften, nationale Souveränität, parlamentarische Demokratie, Bewegungs- und Meinungsfreiheit, Privateigentum und -sphäre und die Autonomie des Menschen - dann werden bald alle Probleme gelöst sein: Umweltverschmutzung, globale Ungerechtigkeit, Klimakrise und Pandemien. Alle werden gleich sein, wenn die Toten auferstehen und erneut eine zentral geplante Kreislaufwirtschaft mit maximaler Kontrolle der Wirtschaft und der Menschen errichten, diesmal noch technokratischer mit staatlich zugeteilten Energiekontingenten und digitalem bedingungslosen Grundeinkommen für jedermann, und diesmal eben im globalen Maßstab.»
Dualität und Dialektik
Wer wünscht es sich nicht: Das Narrativ soll bitte zerfallen und zwar lieber früher als später. Doch wer sagt, dass danach der status quo ante zurückkehrt? Die «alte Normalität»? Corona war bisher machtpolitisch der Traum aller zentralen Planer, Technokraten und Globalisten. Warum sollte diese Orgie ausgerechnet enden, wenn sie am schönsten ist? Es kann vieles hochkommen, vieles kritisch hinterfragt und aufgearbeitet werden, ohne dass sich viel ändert. Auch Widerstand, also die Kräfte des «Guten» aus der Sicht der Kritiker können integriert werden in das Spiel des «Bösen», sie können sich in vielen Schattierungen bewegen und dem Gesamtnarrativ prächtig zuarbeiten, von der Beschleunigung des Institutionenzerfalls, über nützliche Idiotie bis hin zur Auswechslung des verbrauchten Personals.
Das ist das unergründliche Terrain der Dialektik. Auch der Unsinn kann Sinn ergeben, auch das Gegenteil von wahr kann wahr sein. Narrative können ihre Gleise wechseln: Zwischen Russland, Europa und China ist viel Platz für neue Konflikte, bei Kerzenschein und kaltem Ofen lässt sich zudem sicher besonders gut über Blackouts und Cyberattacken philosophieren. Und wenn irgendwo vielleicht doch noch ein Minister fällt, oder ein Kanzler oder Bischof: wer sagt uns, dass es nicht doch nur Bauernopfer waren in einem absurden Theaterspiel, in dem es vordergründig nur Publikum und Bühne gibt, nur Wahlvolk und Regierungen, nie aber die Ebene der «Governance», also der Lichtinstallateure, Bühnenbildner, Drehbuchschreiber, und Regisseure bis hin zu Mäzenen, Financiers oder Subventionsgeber im Hintergrund? Wer spricht heute noch von Merkel? Von Spahn? Von Maas? Alles Figuren von gestern, die ihre Schuldigkeit getan haben.
Ist die Dualität schon schwer zu knacken und unmöglich eindeutig zu definieren, wird sie durch die Dialektik noch zusätzlich aufgemischt. Die Dialektik ist das, was man auf dem Jahrmarkt als Teufelsrad kennt, eine sich seltsam drehende Scheibe, deren Systematik man kaum durchschaut und die demzufolge noch den standhaftesten irgendwann abwirft, wie ein Rodeo-Pferd. Kaum glaubt man, dass man Tritt gefasst hat, kommt man aus dem Tritt. Kaum macht alles Sinn, wird es noch unsinniger. In seinem Vortrag «Wenn die Lösung das Problem ist», zeigt Paul Watzlawick auf, wie man aus einem Konsens ein Glaubensgefängnis formen kann, welches einen selbst und alle anderen auch letztlich einschließt. Wie befreit man sich aus freiwillig gewählten Gefängnissen?
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