Nach Corona kommt das Reich des Guten
Wir leben in Zeiten eines globalen Tugendkults. Die Pandemie ist der Brandbeschleuniger für einen Kollektivismus neuen Ausmaßes. (Vorschau)
«Ach! Das System macht seine Sache gut! Da ist für jeden was dabei. Das gesammelte Gute gegen das gesamte Böse! Mit Karacho! So lautet unsere Erzählung. Alles was endgültig recht hat, gegen alles, was für immer unrecht hat.»
Philippe Muray, in: «Das Reich des Guten», 1991
Was zeichnet eigentlich moderne Machtergreifungen aus? Vermutlich vor allem, dass sie nicht wie Machtergreifungen aussehen dürfen – und somit nur zwischen den Zeilen erkannt und erst in der Rückschau gänzlich verstanden werden können. Im aktuellen Meinungsklima gilt das mehr denn je. In einer Welt der weichgespülten Vokabeln, wie Anti-Aggression, Diversität, Achtsamkeit & Co., gibt es nur noch Sachzwänge und die Vernunft im Dienst der guten Sache, also unangreifbare Maßstäbe, die alternativlose Entscheidungen «vorschreiben». Die Implikation für die Demokratie könnte gewaltiger nicht sein. Denn im Klartext hieße das, dass in der Demokratie von heute nur noch der Schein der Demokratie erwünscht ist, aber keine echte Diskussion über Alternativen mehr, geschweige denn Protest.
Erst unverfänglich, jetzt übergriffig
Für viele mag das zu weit hergeholt klingen. Aber was auch immer es ist, was in das Zentrum der Macht als neuer dumpfer Koloss vorrückt, es kommt doch immer näher. Wie sagte doch Richard David Precht einmal in der Fernsehsendung «Sternstunde Philosophie»: «Gegen die Coronamaßnahmen, die Migrations- oder Klimapolitik auf die Straße zu gehen, zeugt von einer unmündigen und infantilen Trotzhaltung».
Der Kölner Germanist, der als Philosoph und Sachbuchautor seit Jahren den Diskurs des korrekten Lebens im deutschsprachigen Raum mitprägt, entpuppt sich in Zeiten von Corona als einer der vielen Vollender des «Reichs des Guten» von Philippe Muray, einem französischen Philosophen und geistigen Mentor Michel Houellebecqs, der im Jahre 1991 ein Buch mit gleichnamigem Titel veröffentlicht hatte.
Das Reich des Guten, was macht es aus und warum ist es heute besonders relevant? Im Kern bezeichnet das Reich des Guten eine Gesellschaft der Pharisäer, also von Menschen, die sich selbst im Gnadenstand der Erkenntnis des Guten und Richtigen glauben und daraus das Recht ableiten, massiv in das Leben anderer Leute einzugreifen. Diese neuen Pharisäer sind eine eigene Nomenklatura der Macht geworden, die stets vorgeben, im Sinne eines wolkigen gesellschaftlichen Konsenses zu den großen Fragen der Zeit, wie Migration, Klima, Gender und Minderheitenrechte – und jetzt natürlich Corona – zu agieren.
Mit Corona wurde es totalitär
Doch spätestens mit Corona ist der korrekte Konsens nicht bei einer Ansichtssache über Sprachkosmetik und Gendersternchen geblieben. Murays «Reich des Guten» wäre dann in der Form der seit Jahren bekannten, medialen Tugendrepublik verharrt. Nein, das Reich des Guten könnte nur das Vorspiel für einen Systemwandel totalen Ausmaßes gewesen sein, mit der Cancel Culture als Schneise, die sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht, und letztlich vor allem die Funktion hatte, Menschen voneinander zu trennen. In einem manichäisch geprägten Kampf «gut gegen böse» ist schließlich jede Schattierung und Differenzierung störend; diese zerstört die dringend benötigten Feindbilder, die man als Pappkameraden nun mal für jeden Machtwechsel braucht.
Inzwischen sind aus den Pharisäern von damals handfeste Agenda-Treiber geworden, die sich auf den eintöniger werdenden Marktplätzen der veröffentlichten Meinung die Bälle zuspielen. Der Ausschluss Andersdenkender aus dem Diskurs, der an vielen Beispielen zuvor durchexerziert worden ist – Migrationskritiker sind Nazis, Klimapolitik-Skeptiker sind Leugner, Covid-Maßnahmenkritiker sind Covidioten – flankiert spätestens mit der Covid-Pandemie nun auch eine nie dagewesene globale Machtkonzentration.
Egal ob Regierungen, Privatstiftungen, Großkonzerne, Zentralbanken: Die Corona-Pandemie ist die allgemeine Herdplatte, auf der sich agendawillige Vordenker einer «Neuen Normalität» mit dem medialen Mainstream als Steigbügelhalter ihr Süppchen kochen können.
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Richard David Precht ist der André Rieu der Philosophie.
Vielen Dank für deine wertvolle Arbeit, Milosz. Der russische Mathematik-Professor Igor Schafarewitsch hat in seinem Werk "Der Todestrieb in der Geschichte" den aktuellen Angriff auf die Freiheit bereits vor 45 Jahren brillant analysiert. Höchst empfehlenswert!