Was ist nur aus Israel geworden?
Religiöse Fanatiker stören den Wertewestler zurecht. Radikaler Zionismus hingegen beunruhigt viele Gemüter kaum.
Prolog: Die Kolumne ist ein Gefäß in dem normalerweise jedes Thema Platz finden kann – bis das Gefäß eben bricht. Zum Thema Israel erschien noch keine Kolumne von mir in der Weltwoche, und das lag nicht an mir. Die erste Kolumne zum Thema wurde im November 2023 nicht gedruckt. In der Regel ist das schon das Ende der Kolumnistentätigkeit. Die zweite erschien nun letzte Woche nicht, offenkundig trifft sie nicht den Ton des dort sonst üblichen Israel-Cheerleadings. Zuletzt las ich in der Weltwoche Lobeshymnen auf den Mossad, eine Neu-Vermessung der Grenzen zum Libanon mit Bezug auf Bibelstellen (!) und einen siebenseitigen Artikel mit dem Titel „Liebe zu Israel“. Kann man machen, aber wenn die Gegenseite nur in homöopathischen Dosen vorkommen darf, dann ist die Marschrichtung wohl überdeutlich. Dazu sollte der folgende Text (mit aller Einseitigkeit die ihm innewohnen mag, denn es ist vor allem eine Kritik an Israel) ein Korrektiv sein, nach dem Motto: Die andere Seite kann man gerne diskutieren, kritisieren etc., – vorausgesetzt man hört sie sich an. Mit Schere im Kopf und Biss auf die Zunge will ich nicht schreiben, bei keinem Thema mehr.
Radikaler Islamismus ist seit Jahren ein Thema, über das der Wertewestler gerne spricht. Vor unseren Augen sehen wir religiöse Fanatiker in Form von barbarischen Bartträgern mit Messern und Sprengstoffgürteln, die „Allahu Akbar!“ rufen, bevor etwas Schlimmes passiert. Die Mischung aus religiösem Sendungbewusstsein, politischem Erfolgshunger und Gewaltbereitschaft lehnt der Wertewestler zu Recht grundlegend ab. Aber sehen wir dabei das ganze Spektrum? Oder funktioniert unser Weltbild von der guten und der bösen Achse nur, wenn wir den radikalen Zionismus dabei ausblenden?
Vor ziemlich genau zehn Jahren notierte sich der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seinen Notizen einen „Fund des Tages“: „Der israelische Industrieminister Naftali Bennett, vormals aktiver Soldat, gibt zu Protokoll: `Ich habe in meinem Leben schon viele Araber getötet, das ist gar kein Problem.` Sloterdijk fügt lakonisch hinzu: „Wer so redet, hat Aussicht, dort ganz weit nach oben zu kommen.“
Was Sloterdijk wohl seit den Hamas-Anschlägen am 7. Oktober 2023 und die darauf folgende militärische Räumung des Gaza-Streifens notiert hat? Die Worte israelischer Politiker waren von Anfang an überdeutlich. Man wolle Gaza in Schutt und Asche legen: „Damage before precision“, man bekämpfe „menschliche Tiere“ (Yoav Gallant, Verteidigungsminister Israels), bzw. „Nazis“ (Naftali Bennett). Ein Minister der Netanyahu-Regierung brachte sogar eine Atombombe auf Gaza ins Spiel. Netanyahu beschwörte derweil den biblischen Erzfeind Amalek in Kombination mit Tötungsphantasien für Zivilisten. Die New York Times betitelte das als nichts weniger als Hassrede, bzw. Volksverhetzung.
So sprechen wohlgemerkt Politiker der einzigen Demokratie im Nahen Osten, denen zahlreiche Medien (die Weltwoche ist nicht ausgenommen) eine Art Nibelungentreue geschworen haben. Auf der Ebene deutschen Regierungshandelns ist Unterstützung für Israel gar „Staatsräson“. Immer noch? Dem „Wertewesten“ scheint schon seit geraumer Zeit gehörig der Kompass verrutscht zu sein.
Denn den Worten folgten Taten und die Litanei an Vorwürfen, die sich Israel inzwischen gefallen lassen muss, müsste eigentlich jeden Wertewestler erschaudern lassen. Wo will man anfangen und wo aufhören? Die Klage vor dem IGH wegen Genozidvorwurfs in Ghaza resultierte in vorläufigen Untersuchungsmassnahmen, an demselben Gericht wurden Haftbefehle gegen Netanyahu & Co. beantragt. Israelische Armeeangehörige haben zudem Gefangene vergewaltigt und missbraucht, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Israel setzte letztes Jahr verbotenen weissen Phosphor im Südlibanon ein. Derweil posierten bezahlte Militärinfluencerinnen mit aufgespritzten Lippen in den sozialen Medien. „Sehe ich aus, als könnte ich Kriegsverbrechen begehen?“, fragte eine von ihnen mit Unschuldsgrinsen.
Ist das wirklich die Strategie der israelischen Armee zur medialen Schadensbegrenzung? Die Pager-Aktion zuletzt gegen die Hisbollah darf als terroristischer Akt eingestuft werden, ebenfalls ein Völkerrechtsbruch. Terrorismus von Staatsseite: Muss man Israel jetzt einen „Terror-Staat“ nennen?
Hinzu kommt die anhaltende gewaltsame Siedlungspolitik, also Kolonialismus. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, u.a. die führende Menschenrechtsorganisation Israels, B`Tselem, führen Israel als Apartheidsstaat. Die Lage von Journalisten vor Ort ist seit einem Jahr verheerend, und damit zunehmend auch die Informationslage. 117 Journalisten, überwiegend Palästinenser sind seit einem Jahr getötet worden. Vor kurzem wurde der libanesische Journalist Fadi Boudia während einer Live-Sendung aus dem Homeoffice von einer israelischen Bombe getroffen.
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Israel legt einen aggressiven Exzeptionalismus an den Tag, nach dem Motto: Das Recht möge für andere gelten, wir stehen drüber. Kein anderes Land, außer vielleicht noch die USA erlaubt sich das. Das „von Gott erwählte Volk“, Israel, und „gods own country“ gebärden sich auf der Weltbühne wie entgrenzte Leviathane nach dem Motto „might is right“. Netanyahu ist ein Rechtsaußen-Zionist und Joe Biden nimmt für sich ebenfalls in Anspruch, Zionist zu sein. Der (formell) mächtigste Präsident der Welt dient sich der Staatsideologie Israels an. Was will er uns damit sagen? Dabei wären die USA wohl noch das einzige Land der Welt, das Israel Einhalt gebieten und den Konflikt entschärfen könnte. Netanyahu hält den israelischen Einfluss auf die USA derweil (und schon seit 44 Jahren) für offenbar so stark, dass er sich heute für unstoppbar hält.
Die Ankündigungen an den Libanon von Seiten Israels sind gerade ebenfalls überdeutlich. Kommt nach Ghaza nun der Libanon an die Reihe? Werden wieder über 40.000 Zivilisten sterben, wo doch die radikalen Kämpfer gemeint waren? Der israelische Erziehungsminister sprach gar von der Auslöschung des Libanon. Das ist nicht die Sprache demokratischer Politiker in einem abendländischen Wertegefüge. Das ist die Sprache von Hetzern und Fanatikern.
Für die Pager-Tötungen gab es derweil anhaltenden Jubel auf der Israel-Fankurve des deutschen Journalismus. „Next level Terrorbekämfung“, findet das Ulf Poschardt, Welt-Chefredakteur. Was soll gemeint sein? So next level jenseits des Völkerrechts durch Einsatz von Terrormitteln. Echt? Medienanwalt Ralf Höcker kommentierte mit „I love it!“ und einem Herzchensmiley. Die Publizistin Birgit Kelle lobte die „Kreativität“ und „Präzision“, obwohl Pager auch gerne in Händen von Kindern landen. Ist Jubel für Völkerrechtsbrüche jetzt normal? Frage für einen jüdischen Freund.
Der politische Zionismus hatte den noblen Zweck, Juden eine sichere Zufluchtsstätte in einem eigenen Staat zu ermöglichen. Wird dies durch die aktuelle Regierung noch eingelöst? Das Verhalten Israels gefährdet gerade Juden in aller Welt, die sich durch das Verhalten der israelischen Regierung in Sippenhaft genommen fühlen, auch wenn sie den Zionismus dieser aktuellen Prägung oder die Regierung ablehnen.
Die blinde Gefolgschaft für den Zionismus, den viele Medien an den Tag legen und die nicht selten in einem peinlichen und einseitigen Cheerleading für Israel mündet (auch in der Weltwoche), ist hochgradig befremdlich. Die einzige Erklärung, die mir für diese Einseitigkeit einfällt, ist der verbreitete Irrtum, dass Pro-Zionismus einem angeblich das Etikett des Philo-Semiten eintragen könnte. Und wer wollte das nicht? Dabei geht es bei all dem um Politik, Krieg und Völkerrecht und am wenigsten um Juden.
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Israel zerstört sich gerade selbst, indem es seine Nachbarn und Mitmenschen malträtiert. So haben sie auf Dauer kein Gastrecht in der Region. Vielen Dank, dass Sie das Ganze im Blick haben und keine falsche Rücksicht nehmen.
Werter Herr Matuschek, ich habe mich wirklich gewundert, wieso in der Weltwoche nichts von Ihnen zum Thema Israel kommt. Es ist schon etwas beschämend, dass so eine Kolumne in der WW nicht Platz hat. Jetzt konnte ich die Kolumne ja trotzdem lesen. Vielen Dank dafür.