Wer nicht vergleicht, hat schon vergessen
Es gibt keine Erkenntnis für die Gegenwart ohne den Vergleich mit der Vergangenheit. Warum Deutschlands Erinnerungskultur eine leere Hülle geworden ist.
Anfang des Jahres bekam die Komponistin Inna Zhvanetskaya Post von einem deutschen Gericht. Man teilte ihr mit, dass sie in eine Psychiatrie eingewiesen und dort gegen Corona zwangsgeimpft werden soll. Frau Zhvanetskaya ist eine ukrainische Jüdin, Jahrgang 1937. Der Beschluss konnte zwar inzwischen gerichtlich aufgehoben werden, doch ein Schockmoment bleibt: Die Zwangsimpfung einer Jüdin in Deutschland weckt zu Recht böse Erinnerungen an die Vergangenheit.
Doch, Moment: Diese Erinnerung darf ja gar nicht geweckt werden. Sie ist verboten. Denn natürlich hat nichts mit nichts etwas zu tun, hier beispielsweise die Vergangenheit mit der Gegenwart. Und es geht noch weiter: Wenn heute die Holocaustüberlebende Vera Sharav auf Demonstrationen und in Reden die Einhaltung des Nürnberger Kodexes anmahnt, der medizinische Menschenversuche ohne Einwilligung verbietet, sowie Parallelen zieht zwischen Handlungen des NS-Regime und den Exzessen der Corona-Politik, dann steht sie damit mit einem Bein im Gefängnis. Sie könnte wegen Volksverhetzung und Verharmlosung des Holocaust angeklagt werden. Perverse Pädagogik: Die Nachfolger der Täter belehren die Opfer über den Umgang mit dem eigenen Verfolgungsschicksal.
Die Erinnerungskultur Deutschlands, sie gleicht schon länger dem Experiment von Schrödingers Katze: Sie ist zugleich lebendig und tot. “Lebendig” ist sie beispielsweise am Holocaust-Gedenktag oder wenn an den Widerstand gegen Hitler gedacht wird.
Tot ist sie, wenn es um Vergleiche des NS-Unrechts, wie experimentellen Impfungen gegen Fleckfieber im KZ Buchenwald, mit experimentellen mRNA-Impfungen heute geht. Die Erinnerung führt in Deutschland inzwischen ein Doppelleben. In Bezug auf die Vergangenheit ist sie ein offizielles Postulat, das zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gehört. In Bezug auf die Gegenwart wird sie als Sprechtabu verwendet: Vergleiche sind verboten. Früher forderte man: Wehret den Anfängen! Heute droht man: Wehe ihr erinnert an irgendwelche Anfänge!
Doch Erinnerung ohne Bezug zur Gegenwart wird sehr bald zu einem leeren Ritual, zu einem staatlichen Hochamt mit Floskelproduktion. Nicht der Vergleich gehört verboten, sondern die Tabuisierung des Vergleichs. Wer vergleicht, analysiert Muster, Mechanismen und Methoden, schält Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Der treffende Vergleich ist zugleich eine aktivierte Erinnerung. Vergleichen bedeutet verstehen und infolgedessen verhindern können. Wer Vergleiche mit einem Tabu belegt, kappt die Verbindung zum Verständnis und entkernt den Zweck der Erinnerung: Die Wiederholung zu verhindern. Das ist dann keine Erinnerungspolitik mehr. Das ist Vergessenspolitik für die Gegenwart. So kann man den Mantel der Erinnerungspolitik politisch missbrauchen, um kritische Auseinandersetzung im Hier und Jetzt zu diskreditieren. Wenn Erinnerung an die Vergangenheit in Sprechtabus für die Gegenwart resultiert, pervertiert sie sich selbst. Auch hier gilt: Wer den Vergleich nicht zu scheuen braucht, lässt ihn zu.
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