Wir Wegschauer
Deutschland scheut sich vor der Aufarbeitung der Corona-Zeit wie vor einer Wurzelbehandlung. Und auch andere Themen blenden wir lieber aus oder tabuisieren sie. Wiederholt sich ein deutsches Trauma?
Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung, für die ich auch während Corona hin und wieder geschrieben habe. Die Berliner Zeitung hat auch Dank ihrer kritischen Berichterstattung in den letzten Jahren den ökonomischen Turnaround geschafft. Vincit veritas!
Novalis, der Dichter der deutschen Romantik wusste: „Der Mensch besteht in der Wahrheit. Gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis. Wer die Wahrheit verrät, verrät sich selbst. Es ist hier nicht die Rede vom Lügen sondern vom Handeln gegen Überzeugung.“
Etwas hängt durch
Seit fünf Jahren habe ich Deutschland für die Schweiz verlassen. Seitdem reibe ich mir aus der Ferne noch verwunderter die Augen über meine frühere Heimat als sonst. Zeit meines Lebens kannte ich Deutschland als das Land der Prinzipien, das von Menschen mit ebenso starken Prinzipien am Laufen gehalten wird.
Heute weiß ich nicht, ob dieses Land noch existiert. Etwas hängt durch in diesem Land. Am stärksten hängt wohl der Wille durch, sich ehrlich Rechenschaft über sich selbst abzulegen. Wo es keinen Willen zur Selbsterkenntnis gibt, gibt es keinen Willen zur Realität. Wenn wir nicht wissen, wer wir selbst sind, und wo wir wirklich stehen, ist jeder Weg beliebig.
Geben wir gerade die Wahrheit über uns selbst preis? Mit Novalis gesprochen: Vollziehen wir gerade einen Verrat an der Wahrheit und an uns selbst? Und man darf erstaunt hinzufügen: Erneut?
Der fehlende Wille zur Wahrheit mag ein verblüffender Befund sein. Denn Deutschland will offiziell ja für nichts anderes mehr stehen, als für das Gegenteil, den schonungslosen Blick auf die Wahrheit. Deutschland ist das Land der gelebten Reue und Wiedergutmachung, der Erinnerungskultur, des akribischen Hinschauens und Mahnens.
Doch dieses Deutschland scheint untergegangen zu sein. Es stellt sich der Gegenwart gar nicht und der Vergangenheit erst, wenn es kaum mehr jemandem mehr weh tut. Gerade gibt es zahlreiche schmerzhafte Themen und vor allen verschließt das Land kollektiv die Augen, als brächte man die Probleme damit zum Verschwinden. So entstehen Parallelrealitäten, die sich gegenseitig ausschließen.
Der Erinnerungsweltmeister leidet an einer Schmerzaversion aus Angst vor Infragestellung des Selbstbildes.
Nehmen wir nur ein paar wenige Beispiele:
Die Zerstörung von Nordstream war ein Angriff auf deutsche Infrastruktur. Doch das Offensichtliche, nämlich eine Zerstörung durch die USA selbst, ist ein Tabuthema. In welchem sicherheitspolitischen Fahrwasser befindet sich ein Land, das sich vor seinen „Freunden“ fürchten muss, während es diesen militärischen Beistand leistet?
Die entschwärzten RKI-Protokolle offenbaren, dass es kein Team Wissenschaft gab, das evidenzbasiert die Corona-Politik gestaltet hat. Vielmehr gab es ein autoritäres Durchregieren der Politik, über Ausgangssperren bis hin zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht, die sich wissenschaftstreu gebärdete, tatsächlich aber die Bevölkerung über die Evidenzgrundlage belog. Das nächste Aufarbeitungs-Tabu wartet. Es ist im besten Deutschland aller Zeiten für Politiker mit Pharmahintergrund problemlos möglich, ins Blaue hinein Grundrechtsverstöße in Massen zu begehen und dabei die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt zu verspielen. Deutschland hat während Corona erneut gezeigt, dass es bei experimentellen Menschenversuchen an vorderster Front mit dabei ist. Wie will man das ehrlich aufarbeiten?
Deutschland wäre gerne der Heils- und Friedensbringer in der Welt. Dank der Parole „Nie wieder Krieg“, glaubten das manche sogar mal. Tatsächlich hat Deutschland militärisch und außenpolitisch gerade keine andere Rolle als den des „sidekicks“ für die USA. Jetzt wird im Eiltempo die Wehrpflicht wieder eingeführt, gegen Russland mobilisiert und ein Schuldenberg für Militärgerät angehäuft. Deutschland ist unterstützend mit dabei, wo die angeblich „Guten“ Krieg führen, egal ob es dabei (wie bei Israel-Ghaza) dann völkerrechtskonform zugeht oder nicht. Verfolgt Deutschland eigentlich (auch) irgendwelche Interessen oder erfüllt es vor allem Verpflichtungen aus Abhängigkeiten?
Es gibt keine ideale Sprechsituation mehr – es gibt gar keine
In einer echten Demokratie würde über diese Themen über Wochen intensiv gestritten und zwar ergebnisoffen. In einer gelenkten Demokratie, wie der unseren, wird skandalisiert und angeprangert, wer es wagt, an diesen Tabus zu rütteln.
Während der wie ein Pharmavertreter auftretende Karl Lauterbach und die wie eine Rüstungslobbyistin agierende Strack-Zimmermann sich in den Talkshows die Klinke in die Hand geben, traut sich der normale Bürger laut Umfragen mehrheitlich nicht mehr, seine Meinung noch frei zu sagen. Dass Zensur im besten Deutschland aller Zeiten real ist, lässt sich kaum leugnen.
Zuletzt waren die Publizisten Stephan Homburg und Paul Schreyer betroffen, ganze Sendungen wurden von YouTube gelöscht. Beide hatten sich intensiv mit den RKI-Protokollen befasst. Der Berliner Meme-Künstler „Snicklink“ ist immer wieder mit Shadow-bans konfrontiert, welche die Reichweite seiner KI-Videos begrenzen. Gänzlich gelöscht wurde zudem der YouTube-Kanal des maßnahmenkritischen Netzwerks aus Wissenschaftlern und Ärzten „MWGFD e.V.“. Zensur, wohin man blickt, wenn man denn hinsehen will.
Der Mainstream hat für diesen schweren Eingriff in den Meinungswettbewerb bisher keine Worte gefunden. Wie viel Angst muss bei den Beteiligten herrschen, wenn man zu Verboten greifen muss, weil die Argumente zur Widerlegung nicht mehr reichen?
Wo ist die habermassche Diskurstheorie, wenn man sie mal braucht? Generationen von Studenten wuchsen im Schatten der Idee heran, dass es eine ideale Sprechsituation für alle gegeben könne, einen herrschaftsfreien Diskurs, in welchem die Wahrheit ohne Zwänge und Machtunterschiede ergründet werden kann. Auch diese Vorstellung stellt sich als Schimäre heraus, als nächste Lebenslüge.
Es gibt in Deutschland gerade keine ideale Sprechsituation, es gibt gar keine. Der herrschaftsfreie Diskurs ist ein Diskurstheater der herrschenden Meinung, die Veranstaltung eines öffentlichen Wohlfahrtsausschusses spätjakobinischen Einschlags. Die echte Debatte ist einem öffentlichen Laiengericht gewichen, bei welchem Anklage und Beweisführung das Gleiche sind und das Urteil der Verbannung aus dem Kreis der Vernünftigen schon vor dem Prozess feststeht. „La republique n`a pas besoin de savants“, Die Republik braucht keine Wissenschaftler, hieß es angeblich bei der Hinrichtung des Chemikers Lavoisier unter der Guillotine.
Wer heute nicht die Wissenschaftsmeinung des modernen Wohlfahrtsausschusses teilt, den erreicht die soziale Hinrichtung via medialem Todesurteil.
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Jaspers: “Wohin treibt die Bundesrepublik?”
Im Reich der Lüge ist das Aussprechen der Wahrheit der eigentliche Verrat. Den neuen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ haben wir jetzt als Folge. Eine Mehrheit traut sich gar nicht mehr mit der eigenen Ansicht an die Öffentlichkeit, es folgt ein Rückzug ins Private, in die Echokammer des Stammtisches oder in die Schweigespirale und Vereinsamung.
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