Im Bermudadreieck des Denkens
Wenn Intellektuelle versagen, muss es immer die Mehrheitsgesellschaft ausbaden. Plädoyer für eine intellektuelle Wachablösung.
Die Tätigkeit des Intellektuellen findet an einer Scharnierstelle der Gesellschaft statt. Genau genommen ist es der Ort der Mülltrennung. Der Intellektuelle hat die Aufgabe, die wertvollen Ideen von den wertlosen zu trennen, erstere zu stärken und letztere auszusondern. Was wertvoll und was wertlos ist, darf nicht nach opportunen oder modischen Kategorien bewertet werden, sondern nur nach zeitlosen Maßstäben der Weisheit und Gerechtigkeit. Das Ansehen des Intellektuellen bildet sich durch Treffsicherheit, Schonungslosigkeit, Charakterstärke und der Haltbarkeitsdauer seiner Aussagen. Wer fühlt sich davon heute noch angesprochen? Wo sind die kritischen Intellektuellen?
Parvenühafte Zeitgeistclaqueure
Karl Jaspers, Günther Anders, Hannah Arendt: Den Typus des interesselosen Intellektuellen, der bereit war, sich mit den Kräften der Gegenwart ohne Rücksicht auf Verluste anzulegen, sucht man heute fast vergebens. Stattdessen regieren Sprücheklopfer und parvenühafte Zeitgeistclaqueure im Dienste der aktuellsten ideologischen Verirrung. Der Intellektuelle wurde in den letzten Jahren vom Orientierungsgeber zum Orientierungsverhinderer. Er wurde zum Teil einer Priesterkaste. Geistige Kollaboration mit der Macht ist jedoch der erste Schritt zu geistiger Korruption durch Macht. Der Intellektuelle kann nur der Macht der Logik dienen, nie der Logik der Macht. Das Spiel mit Worten ist weder ein Spiel noch ist es unschuldig. Geist verdichtet sich zu Materie. Ideen und Schlagworte sind der Stoff aus dem erst ein geistiges Klima und später Gesetze geschmiedet werden.
Intellektuelle sind jedoch nicht nur Denker sondern auch Spekulanten der Ideen. Mit dem Börseninvestor oder Trader haben sie gemeinsam, dass ihr Kapital mit jedem Treffer steigt und mit jedem Irrtum sinkt. Sie handeln letztlich mit ihrer eigenen Haut, haben maximal «skin in the game». Was für den Investor das Kapital, ist für den Intellektuellen die Glaubwürdigkeit. Und wie bei der Investition gilt auch im geistigen Gewerbe: man kann hunderte Einzelgewinne durch eine einzige große Fehlspekulation zunichte machen. Das gilt besonders in Krisenzeiten. In diesen werden die Karten neu gemischt. Ausgerechnet jetzt spielen bei vielen die sonst so verlässlichen inneren Instrumente verrückt. Die Orientierung ist futsch, wie im Bermudadreieck. Man ist plötzlich herausgefordert, eine Seite zu wählen. Statt auf den eigenen Maßstab zu vertrauen, lassen sie die meisten durch Sirenenklänge der Masse verführen. Aus moralischen Autoritäten werden autoritäre Moralmelker. «Den Professoren bringt man das Apportieren bei», erkannte schon Ernst Jünger.
«Niemand hat das Recht zu gehorchen», meinte mal Hannah Arendt. Doch jeder hat das Recht sich zu blamieren, könnte man heute anfügen. Irgendwann wird man eine Typologie der Intellektuellen in Zeiten von Corona und Krieg schreiben. Wie wird diese aussehen? Ein paar Kategorien deuten sich schon jetzt an.
Nützliche Idioten dienen der Logik der Macht
Da wäre einmal der verstolperte Geistesgigant, bestens dargestellt von Peter Sloterdijk. Er erkannte noch, dass der Staat die Samthandschuhe ablegte und autoritär wurde; trotzdem gehörten Corona-Kritiker und Querdenker für ihn in die Kategorie der Irrgläubigen des Spätmittelalters. Der grosse Theoretiker der Farbe Grau setzt scheinbar die schwarz-weisse Brille auf, sobald ein Journalist mit einer heissen Frage um die Ecke kommt. Nicht weniger verbreitet ist die Kategorie der prominenten «Dummsteller». Die Schriftstellerin Juli Zeh hat die Grundrisse einer Gesundheitsdiktatur schon vor Jahren in ihrem Roman «Corpus Delicti» ausbuchstabiert; sie weiss zudem, wie ländliche Milieus gegenüber städtischen Milieus denken («Über Menschen»). Ihr Schweigen dröhnt besonders laut. Wer soll ihr die Persönlichkeitsspaltung in kluge Schriftstellerin und öffentliche Ahnungslose abnehmen? Die Kategorie des «nützlichen Idioten» quillt zugegebenermassen gerade über, Pars pro Toto lässt sich hier der Philosoph Markus Gabriel heranziehen; er hält doch tatsächlich Lauterbach für einen Philosophen und die Impfpflicht für die Rettung aus der Pandemie. Si tacuisses, philosophus mansisses – wenn du geschwiegen hättest, wärest du Philosoph geblieben…
Die Kategorie des Propagandisten als Witzfigur führt unangefochten der Berliner Schriftsteller Ralf Bönt an. Nachdem es ihm nicht gelungen ist, publizistisch eine Opferkategorie für den modernen Mann salonfähig zu machen, versucht er sich jetzt als Held im Konjunktiv. Den Wehrdienst in jungen Jahren schwänzte er noch, indem er ein paar Wehwehchen erfand. Jetzt, im Fall der Ukraine jedoch, würde er kämpfen. Findet sich schon bald der Volkssturm der linken Wehrdienstverweigerer in der légion étrangère eines Bandera-Bataillons wieder? Tragikomisch schließlich sind, wie immer, die «Endsieg-Gläubigen», wie die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski. Sie gehört zum Team der Massnahmenfanatiker und unbeirrten «Zero-Covid»-Fans, scheuchte ihre Leser schon früh zur Impfung, wie so oft: unbeeindruckt von der eigenen Ahnungslosigkeit. Nach mehreren Impfungen und einer Corona-Infektion liest man von ihr seit Monaten nichts mehr, sie klagt über «Nebel im Kopf». Falls sich letzterer irgendwann lichten sollte, könnte ihr auffallen, dass ihr angebliches «Long Covid» und die Impfnebenwirkungen ganz ähnliche Symptome aufweisen. Wer sie darauf auf Twitter hinweist, wird geblockt.
Historisch gesehen sind Intellektuelle die verlässlichsten Krisenversager, eine Art Kontraindikator. Man denke an Carl Schmitt und Heidegger im Nationalsozialismus, das Propagandarollenspiel Stalins mit Sartre, Beauvoir, Gorki oder Feuchtwanger in verteilten Rollen. Der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz hat dem «Verführten Denken» seiner Geisteskollegen sein bestes Buch gewidmet. Die große Frage ist bis heute unbeantwortet: Wieso hört bei den einen der Kompass auf zu funktionieren und bei anderen nicht? Wieso verherrlichten ein E. M. Cioran oder Mircea Eliade den Vitalismus Hitlers, während ihr rumänischer Landsmann Eugène Ionesco sein Theaterstück «Die Nashörner» schrieb?
Jetzt kommen die “Spätkonvertiten”
Die Verführung des ganz grossen Gewinns scheint stets größer, als das Gefahrenbewusstsein des endgültigen Absturzes. Wer sein Schicksal an das der Mächtigen hängt, entscheidet sich für die Selbstverzwergung des Denkens und verglüht als Popup-Denker und Parvenü im Schmelzofen der Zeitläufte. Der Intellektuelle im Bannstrahl der Mächtigen ist nie mehr als als ein nützlicher Idiot. Einigen scheint genau dies klar zu werden, sie eröffnen jetzt die Kategorie der «Spätkonvertiten». Dazu gehört ganz vorne ein Richard David Precht, dem zu Corona erst nur ein Lob auf den Gehorsam des Staatsbürgers einfiel. Seinen Kindern mochte er die Gentherapie im Mantel der Impfung dann allerdings lieber doch nicht verabreichen. In Sachen Russland-Ukraine schrieb er an einem Friedensappell. Und gerade schreibt er mit Harald Welzer ein Buch über das Versagen der Medien und fabrizierte Mehrheitsmeinungen. Wie ernst das neue Querdenkertum des Mainstreams zu nehmen ist, ist heute noch offen. Den Spätkonvertiten traut oft weder die eine noch die andere Seite über den Weg.
All dies zeigt: Geistige Avantgarde zu sein ist immer die Sache einer Minderheit. Mut ist immer erst dann mehrheitsfähig, wenn sich das Blatt der Geschichte gedreht hat. Wer im Moment der Krise nicht alleine stehen kann, den weht der Wind der Geschichte bei der nächsten Gelegenheit um.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Weltwoche.
An dieser Stelle bedanke ich mich bei allen Lesern (und Käufern!) meines Buches “Wenn´s keiner sagt, sag ich´s”. Mit Ihrer Hilfe ist es gerade in die Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen. Auch dies zeigt: Es gibt ein großes Publikum jenseits des Mainstreams, niemand ist heute durch Konformität zur Unsichtbarkeit verurteilt, ganz im Gegenteil.
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Auf dem Höhepunkt des "Zeitalters des Narzissmus" haben sich auch die vermeintlichen "Intellektuellen" schon lange selbst entlarvt als Schein-Intellektuelle. Mit dem derzeitigen Übergang in das "Zeitalter der Authentizität" werden auch sie abgelöst von realen Intellektuellen.
Passend zu Deinem wieder herausragenden Stück Mein Aufruf an die “Intellektuellen” (https://www.thomasbinder.ch/post/mein-aufruf-an-die-intellektuellen) am 12.03.2017:
"Werte von mir bisher immer hoch geschätzte Euch “liberale Intellektuelle” Wähnende, besinnt Euch bitte endlich (wieder) darauf, was nicht die scheinbare sondern die reale Aufgabe der “Intellektuellen” sein muss, damit der immer noch weiter zunehmende globale Wahnsinn ein Ende nimmt bevor er uns alle gegen die Wand gefahren haben wird!
Es ist die Aufgabe der "Intellektuellen", wörtlich der Einsichtigen, immer und überall unparteiisch die sokratische Position einzunehmen, sich immer alle Narrative anzuhören, die Fakten zusammenzustellen, diese zu defragmentieren und zu kontextualisieren und das faire Optimum, andere sagen die Wahrheit, zu suchen, zu finden und zu formulieren, immer im "sowohl als auch", niemals im "entweder oder", sich niemals selber verblenden oder kaufen zu lassen, immer authentisch zu bleiben und, falls alle menschlichen Dämme inmitten der alles erschütternden Krisis zu brechen drohen, den Mythen der eigensüchtigen Verblender die Fakten entgegenzustellen, deren Wahnsinn zu entlarven und ihm mutig und entschlossen entgegenzutreten, ohne Rücksicht auf eigene Nachteile, bei Bedarf auch mit ihrem Leben, um die Menschheit vor ihrer Unmenschlichkeit und somit vor sich selbst zu beschützen."
Künstler und Intellektuelle (sry. für die vereinfachende Verallgemeinerung) waren Mitte März 2020 die ersten, die sich verkrochen. Und kommen, sobald sich die "Krise" zu lichten scheint, selbstbebauchspiegelnd wieder zum Vorschein. Es zeigt sich, dass dieser Typus nicht geeignet ist Wandel zu bewirken, noch an ihm aktiv mitzuwirken.
Folglich muss, wenn die vermeintliche die Gesellschaft kritisierende Avantgarde wie Künstler und Intellektuelle versagt, die #avantgardistische #resolute #Minderheit - die stets obsiegt - die #Speerspitze des #Wandel|s sein und das Heft in die Hand nehmen ...
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