In den Fängen der Zwangsbekenntnisgemeinschaft
Eine Runde Russenhass gefällig? Eine Gesellschaft, die keine Grautöne mehr kennt, ist zwangsläufig totalitär.
Es hat einen ja schon zu Pandemiebeginn gewundert, wie schnell es ging. Ist es Ihnen auch aufgefallen? Plötzlich war der Islamistische Terror weg. Und das nicht nur so ein bisschen weg, sondern gänzlich weg. Vermutlich von Corona dahingerafft. Oder machte der IS aus Pandemie-Pietät kurz mal Pause? Nun, das mediale Kaleidoskop hat sich gerade erneut gedreht. Im Fensterchen «safe to hate» erscheint, wie auf dem Plattenteller einer Juke Box, nach dem Mann mit Bart und Turban und dem Querdenker, jetzt der Feind aus der Mottenkiste: «der Russe».
Gestern Arztkittel, heute Tarnfleck
Mit dem neuen Feindbild verlagert sich sogleich die Solidaritätsindustrie. Das Tugendmäntelchen hat die Farbe gewechselt, von arztkittelweiß auf Tarnfleck mit gelb-blau-Merchandising. Es ist ein bisschen so wie bei Carola Rackete, der Seenotrettungskapitänin, die ganz fix auf grüne Weltrettung umgeschult hatte. Auch auf Facebook und anderswo hat das Ukraine-Cheerleading bereits begonnen. Nichts gegen echte Anteilnahme und Hilfe für Kriegsflüchtlinge, natürlich. Doch es beschleicht einen die Vermutung, die neuen Ukraine-Fans sind so ziemlich die gleichen Leute, die vor zwei Jahren frenetisch für die Pflegekräfte auf Balkonen geklatscht haben, bevor sie ebendiesen mit einer Impfpflicht in den Rücken traten. Statt Inzidenzzahlen, die niemand versteht, gibt es jetzt ukrainische Städtenamen, die keiner kennt. Während woanders ein echter Krieg tobt, den wir – wie immer nur als Krieg der Bilder und Meldungen kennen – kann es sich der westliche Zuschauerdemokrat gerade an der Heimatfront des Hasses und der Heuchelei gemütlich machen.
Nach der Corona-Cancelculture, deren prominentestes letztes Opfer übrigens der Chef einer deutschen Betriebskrankenkasse ist, der vor stark erhöhten Impfnebenwirkungen warnte und daraufhin seinen Job verloren hat, ist jetzt die Russen-Cancelculture an der Reihe. An der Uni Mailand sollte vor kurzem eine Vorlesung über Dostojewski ausfallen. In München wurde der Dirigent Valery Gergiev gechasst; gerade werden die Auftritte von Anna Netrebko weltweit storniert. Wer sich nicht schnell genug von Putin distanziert, ist weg vom Fenster. Die deutsche SPD hat schon mal ganz pflichtschuldig den Kaffeebecher Gerhard Schröder aus ihrem Shop entfernt. Der Ex-Kanzler lobbyiert ja seit Jahrzehnten für Gazprom. Kommt als nächstes der Parteiausschluss? Den Kaffeebecher mit Karl-Marx-Konterfei «Auf einen Kaffee mit Karl» gibt es übrigens noch. Ja, es geht immer noch etwas lächerlicher.
Grautöne passen nicht mehr ins Bild
Das erste Opfer des Krieges, sagen manche, ist die Wahrheit. Dabei ist es die Neutralität. Wer die Schablone Krieg über die Gesellschaft zieht, lässt nur noch die Unterscheidung in Freund und Feind gelten. Die Demokratie, die stets von Nuancen, Grautönen und Alternativen lebt, wird medial in eine Zwangsbekenntnisgemeinschaft umgewandelt. Jeder, der ein Facebook-Profil hat, melde sich bitte sofort bei seiner zuständigen Propaganda-Einheit. In einer solchen Situation bräuchten wir mehr Komplexitätskompetenz statt großspuriger Gewissheitsbekundungen. Neutralität bedeutet übrigens nicht Gleichgültigkeit oder totale Parteilosigkeit. Neutralität ist vor allem das souveräne Recht auf Freiheit von Zwangsbekenntnissen. So wie es übrigens zur Meinungsfreiheit gehört, keine Meinung zu haben oder eine bestimmte äußern zu müssen.
Das Strategem Nummer 6 der chinesischen Listenlehre lautet: «Im Osten lärmen, im Westen angreifen». Der Gewinner seit zwei Jahren ist bei allem ganz klar China. Egal, was passiert: Lockdowns, Test- und Impfpflicht, Ausweitung der Überwachungsmethoden oder jetzt der Krieg in der Ukraine. All das nützt China, im Stillen den Gipfel als neue Weltsupermacht zu erklimmen. Während alle gerade dem Blutvergießen in der Ukraine zuschauen, blutet der Westen selbst aus. Die Inflation schnellt hoch, der Mittelstand geht vor die Hunde, die eigene Identität verschwimmt, die westlichen Werte zählen nur noch im richtigen Lager.
Der Krieg ist längst in den Köpfen, längst in den Herzen, er tobt mitten unter uns, global und unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung. Es ist ein Krieg gegen den Bürger des Westens, den es offiziell nicht geben darf. Wie praktisch, dass es jetzt einen echten, sichtbaren Krieg gibt, der genau davon ablenkt.
Jetzt fehlt eigentlich nur noch eine extrem ansteckende Russen-Mutante, die durch eine Cyberattacke in die Welt kommt und durch russisches Gas und russischen Vodka in der ganzen Welt verbreitet wird.
Diese Kolumne erschien zuerst bei Nebelspalter.ch
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Vor ein paar Jahren fing das ganze an, ich weiss gar nicht mehr recht wie: #ClimateChange, «Gendern», später ein billiges Niederknien beim Grümpelturnier selbst in der Innerschweiz, Konformitätsbekundung durch überkorrektes Maskentragen und «COVID-Zertifikate», und nun werden die Profilbilder in blau-gelb getüncht, während mein Vorgesetzter in seinem Dorf alte Kleider für die Ukrainer sammelt. Alles, aber ja bloss keinen Diskurs, denn die Moral lässt eine differenzierte Betrachtungsweis nicht zu.
Ich frage mich, was der Auslöser dieser Infantilisierung der Gesellschaft sein könnte. Sind es die Sozialen Netzwerke, in Kombination mit einer immer kürzer werdender Aufmerksamkeitsspanne? Oder ist die westliche Gesellschaft, vollends dekadent, mit belanglosem (Tiktok, Netflix, YouTube, Games etc.pp.) derart beschäftigt, dass vormaliges gesellschaftliches Engagement durch Haltung bzw. öffentliche Bekennung zum vermeintlich Richtigen ersetzt worden ist?
Wie immer sehr klare und passende Worte, die leider von zu wenigen Menschen gehört werden. Ich bekomme von der aktuellen Propaganda nichts mehr mit. Bin seit einigen Jahren aus dem Mainstream komplett ausgestiegen. Was auch irgendwie doof ist... ich schaue hilflos dabei zu, wie man mir mein Land (eigentlich ja die ganze Welt) nimmt (Freiheit, Gender, Klima, Corona, Feminismus, Migration etc.) und so viele Menschen wirklich total glücklich dabei mitmachen.