Realität als Realsatire: Wann drehen wir den Spieß um?
Die Welt will betrogen sein, doch der Mensch strebt nach Wahrheit. Braucht es immer erst den harten Aufprall, bevor sich grundlegend etwas ändert?

Wir befinden uns in einer sich zuspitzenden Phase des Deklinismus: einem spiralförmig nach unten laufenden zivilisatorischen Sog. Politik ist Kabarett und umgekehrt, grün ist jetzt olivgrün, Gesundheit ist ein staatliches Massenexperiment, Geld lässt sich nachdrucken ohne Ende, Moral triumphiert über Vernunft und Transsexualität ist die neue Götze.
Für Antonio Gramsci bestand eine Krise darin, dass das Alte stirbt, während das Neue nicht geboren werden kann. In diesem Moment öffnet sich das Tor der Hölle ein Stück weit, und giftige Dämpfe entweichen. Diese Kluft wieder zu schließen, indem sie eine Entscheidung herbeiführt, ist schon dem Wortsinn nach die Funktion der Krise.
Der menschliche Geist ist für Katastrophen gar nicht so schlecht gerüstet, er verfügt über eine feine Sensorik für richtig oder falsch und vermag auch instinktiv schnell und richtig zu handeln. Wo der menschliche Geist jedoch gerne versagt, ist im Erkennen von Krisen. Der Mensch reagiert erst dann, wenn seine Mikrowelt bedroht ist. Bis es so weit ist, folgt er dem Motto Nestroys: «Ich lass mir meinen Aberglauben durch keine Aufklärung nicht rauben.» In der Phase der unmittelbaren Vorkrise haben deshalb die Illusionsmaler Konjunktur. Es schlägt die Stunde von Experten für «Marketing, PR und Kommunikation», deren Aufgabe es ist, Potemkinsche Dörfer inmitten blühender Landschaften zu errichten.
Damit ist nicht der kleine Alltagsbetrug der Werbung gemeint, den man erkennt, wenn man näher hinschaut. Der Finanzmathematiker und Philosoph Nassim Nicholas Taleb hat das einmal getan und herausgefunden, dass laut Werbung gesunde Nahrung, wie Orangen, wegen des Zuckers nicht unbedingt gesund, Sojamilch alles andere als «biologisch», «soziale» Netzwerke höchst unsozial und «wissensbasierte» Wissenschaft total ignorant ist. Hinzufügen könnte man noch, dass «smarte Geräte» die Benutzer nicht klüger machen. Nein, vielmehr geht es um die Illusion im Weitwinkelobjektiv, um die Verlässlichkeit unserer Vorstellung von Wirklichkeit, die Frage von Schein und Sein und die Grundfesten des eigenen Glaubenssystems.
Schein siegt über Sein
Unsere Lebenswirklichkeit ist ein komplexes System, in welchem selbst kleine Veränderungen nicht ohne Effekt auf das Gesamtsystem bleiben. Der Charakter der großen Welt folgt dabei dem Charakter der kleinen Welt, wobei zugleich das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein System ist morsch, wenn die Form über den Inhalt und der Schein über das Sein siegt, also letztlich das Papier über den wahren Wert gestellt wird. Wie ist die Bilanz heute? Diplome ersetzen Bildung, Informationen ersetzen Wissen, Zugang ersetzt Eigentum, Zahlenreihen ersetzen Geld, Profilierung ersetzt Persönlichkeit, Likes ersetzen Bezahlung, Kredite ersetzen Wohlstand, das Kuratieren ersetzt Kreativität, das Influencen ersetzt Relevanz und der Rausch das Glück.
Wie für komplexe Systeme üblich, ist es egal, an welchem Punkt die Scheinwelt zuerst bricht: Die Dominoreaktion erfasst früher oder später alle anderen Bereiche. Die letzte Finanzkrise begann mit der Pleite von Lehman Brothers und riss erst Island und dann den Rest der Welt mit. Am Ende waren es weder die Verantwortlichen der Krise noch Institutionen, die dafür geradestanden, sondern die Bürger selbst, die für ihre Illusionen bezahlten. Und es hat sich nichts geändert. Nach der Krise ist vor der Krise.

Blindheit für die Gegenwart hat nicht nur mit der menschlichen Konstitution zu tun, sondern auch mit der Anreizstruktur in komplexen Systemen. Veränderung und Umsteuerung bedeutet Risiko, das kreative Verschleiern des Status quo wird belohnt. Im Kern ist es ein Bildungsproblem: Statt antizipierende Gestalter der Zukunft bildet unser System Welterklärer im Rückspiegel aus.
Dieser Text erschien vor fünf Jahren in der NZZ, ist aktueller denn je und man kann ihn als frühe Warnung lesen.
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Persönlichkeit möchte ich gerne ergänzen. Persönlichkeit ist für mich der Zustand , wie ich gerne von der Aussenwelt gesehen und wahrgenommen werden möchte. Es ist aber eine Illusion die sehr oft, spätestens wenn man älter und gebrechlicher wird, in sich zusammenfällt. Es ist eine Art Spiegel, der aus "Möchtegern Sein" besteht. Wenn man das realisiert, dann ist man meistens schon aus seiner Rolle gefallen und sucht nach seinen Wurzeln. So können auch Burnouts entstehen, weil man weder mit sich selbst, noch mit dem Planeten oder gar der Schöpfung verbunden ist. Wenn man sich in die Scheinwelt verabschiedet hat. Man kann das am ersten an sich selbst erkennen. Darum sollten wir nicht alle Energie nur nach Aussen richten, sondern immer einen Teil nach innen, zu us selbst. So kann man in seiner Mitte sein und erkennen, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Viel Spass dabei. beat schaller
Upside down. Die Wahrheit wird in Lüge, die Lüge in Wahrheit verwandelt. Die volle Wahrheit... Mein Nachbar hat übrigens ein Buch geschrieben zum Thema Dystopie. Es ist böse und sehr freischwebend. Es hat sogar noch Fehler im Layout, aber das ist ihm egal, weil er kein Photoshop kann. https://www.free-ebooks.net/erotica/Fuck-Back-Harder