Warum schweigen die Lämmer?
Um die Demokratie zu retten, muss man erst verstehen, woran sie krankt.
Tucholsky meinte einmal sinngemäß, dass die Masse der Menschen zwar nicht im Detail versteht, was im Staat vor sich geht, aber oft gefühlsmäßig damit richtig liegt, was falsch läuft. Um dem Volk diese intuitive Erkenntnis – heute gerne Populismus genannt – auszureden, braucht es auch in der Demokratie bestimmte Tools, nämlich Meinungs- und Empörungsmanagement. Wie kann das sein, wo doch zum Beispiel im deutschen Grundgesetz schwarz auf weiß steht, dass alle Staatsgewalt vom Souverän, dem Volk, auszugehen hat?
Konstruktionsfehler der Demokratie
Die Demokratie hatte schon für Aristoteles einen Konstruktionsfehler: Wenn alle Menschen die gleiche Stimmgewichtung haben, wie verhindert man dann, dass das Heer der Besitzlosen die wenigen Reichen enteignet? Die Antwort der amerikanischen Gründerväter, wie Madison, darauf war klar: Es braucht eine Demokratieform, die es de facto denjenigen erlaubt zu herrschen, die das Land besitzen, ohne dass dies der besitzlosen Masse auffällt: Die «repräsentative Demokratie» war geboren und sie hat sich bis heute im Kern nicht verändert.
Mausfeld beschäftigt sich mit dem hässlichen Arsenal, das in Demokratien genutzt wird, um die lobotomisierte Herde auf Kurs zu halten.
Für die Beschreibung dieses Umstands hat sich seit der Antike ein Bild etabliert: Die Menschen sind strukturell auch in der Demokratie immer Lämmer, die einem Herdenbesitzer gehören – egal ob sie das im Alltag spüren oder nicht. Ihre Freiheit besteht darin, aus dem politischen Personal diejenigen Hirten (Politiker) auszusuchen, die sie sympathisch genug finden, um von ihnen für ein paar Jahre im Glauben belassen zu werden, dass sie doch eine Art Kontrolle haben. Das Bild der Lämmerherde findet sich als roter Faden bei Platon, Hume, Madison, Friedrich II., Tocqueville, Russell und Lasswell, ohne dass jemals detailliert beschrieben worden wäre, wie sich dieses Verhältnis konkret im Alltäglichen artikuliert.
Diese Lücke schloss vor ein paar Jahren der Kognitionspsychologe Rainer Mausfeld mit seinem immer noch aktuellen Buch («Warum schweigen die Lämmer?»). Es ist eine so schmerzhafte wie brillante Endoskopie des gegenwärtigen politischen Systems. Mausfeld ist ein Volksaufklärer in der Denktradition Humboldts, Deweys und Chomskys, der minuziös dechiffriert, was sonst viele Bürger nur als Grundgefühl hegen: Etwas ist hier faul. Mausfeld beschäftigt sich mit dem hässlichen Arsenal, das in Demokratien genutzt wird, um die lobotomisierte Herde auf Kurs zu halten: Meinungs- und Empörungsmanagment, Denunziationsbegriffe zur Kanalisierung der öffentlichen Meinung, Soft-Power-Techniken und Nudging, um die Details der Umverteilung von unten nach oben zu verbergen.
Es geht um Refeudalisierung
Massenmedien, so Mausfeld in Anlehnung an Paul Lazarsfeld, seien daran mit schuld, hätten sie doch eine narkotisierende Wirkung und vermittelten die Illusion der Informiertheit. Skandale blitzen hier und dort allenfalls noch kurz auf, bleiben aber letztlich folgenlos. Hat sich die Demokratie tatsächlich längst in eine Plutokratie mit demokratischer Fassade verwandelt, ist die Refeudalisierung längst im Gange?
Egal ob es um das gelockerte Datenschutzrecht für Big-Data-Firmen, den Cum-Ex-Skandal, das gegenwärtige Herumeiern bei Waffenlieferungen nach Saudiarabien oder den großangelegten Betrug der Pharmaindustrie bei den Covid-Impfungen geht: Die Bilanz der letzten Jahre in Sachen Gleichheit vor dem Recht sieht verheerend aus.
Mausfelds Buch ist ein Weckruf zur rechten Zeit: Der Demokratie laufen die Demokraten davon, während die Termiten unter den politischen Kräften begeistert an ihren morschen Rümpfen nagen. Die Zeit zur umfassenden Renovierung des Systems wird knapp. Dank Mausfeld wird nun endlich klar, wo jeder ansetzen kann, um die Demokratie zu retten: bei sich selbst.
Dieser Text erschien leicht verändert zuerst in der NZZ.
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Durch das Aufwachsen unter den hier gut beschriebenen Formen des steten "Nudgings" in einer repräsentativen Demokratie, unter lauter harmoniesüchtigen Vermeidern von Auflehnung, Widerspruch und Diskurs haben die Menschen -zumindest im Westen- seit Jahrzehnten nur noch relativen Konformismus und "Sachzwang"-Rationalisierung erlebt. Sie mögen sich gar nicht vorstellen, dass der Staat, die Medien und "Experten" sie einmal derart schlimm betrügen und sie neben ihres Ersparten auch ihrer Freiheit berauben könnten.
Es wird noch mehr Hilflosigkeit bei ihnen auslösen, als die erlebten "Maßnahmen", wenn dieses Heile-Welt-Denken wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Das früher einmal mehr vorhandene Bewusstsein, dass nur durch den Schulterschluss der Vielen mit gemeinsamen Forderungen und Zielen und in lebendigen Debattenräumen mit steter Präsenz vor Ort sowie auf der Strasse die Rechte der Bürger zäh erstritten und verteidigt werden können, ist durch die schleichende Unterwanderung bzw. Korruption der Gewerkschaften völlig verloren gegangen.
Die Verwandlung der Grünen von einer Friedensbewegung in eine Kriegstreiber-Partei hat den letzten Stein zum Scheitern des Zusammenhalts beigetragen.
Ein Vertrauen in die neue Protestbewegung wird durch mediale Hetzpropaganda und schamlose Diffamierung torpediert und ziemlich im Keim erstickt.
Überall haben Technokraten das Ruder bereits übernommen, so dass der Einzelne nicht mehr weiß, an wen er sich noch wenden, wem er denn vertrauen könnte. Wer das schließlich so ernüchtert realisiert, der fühlt sich nur noch verraten und verkauft und verliert die Hoffnung auf ein Entkommen aus dieser dunklen Lage.
Tragen wir unseren Protest dennoch weiter friedlich auf die Straße; denn über die sozialen Medien bleiben wir wie "eingehegt" in der eigenen Blase hängen und erreichen die Anderen gar nicht mehr!
der nzz artikel ist auch heute noch brandaktuell, wie vor 4 jahren, als er geschrieben wurde, und wie bereits zu zeiten platons etc. ein trauriger fakt, dass die mehrheit der leute immer noch im inneren kindesalter verharrt und gern zu papi und mami aufschaut und sich gern leiten lässt, ohne kritisch nachzudenken….wahrscheinlich wird das noch einige hundert jahre so bleiben….