Wem kann man noch vertrauen?
Was hält die Gesellschaft im Innersten zusammen? Vielleicht nur der komfortable Selbstbetrug der Arbeitsteilung.
“Traut niemandem”, sagte vor kurzem der bekannte Filmregisseur Werner Herzog. Wirklich niemandem? Wir brauchen in einer arbeitsteiligen Welt so etwas wie Vertrauen. Vertrauen reduziert Komplexität, wusste der Soziologe Niklas Luhmann. Ohne Vertrauen implodiert unsere arbeitsteilige Lebenswelt. Denn dann lauert ja hinter jeder Ecke ein Sammelsurium von unendlich vielen Optionen. Man müsste bei jeder banalen Tätigkeit - nehmen wir nur den Straßenverkehr - mit so vielen Unwägbarkeiten rechnen, dass eine einfache Fahrt zum Einkaufen zum Abenteuer würde. Wenn jede Handlung zum Risiko wird, passiert nicht viel in einer Gesellschaft.
Implosion der alten Welt?
Wenn Vertrauen enttäuscht wird, endet nicht die Welt. Es endet aber - ein stückweit - die “alte Welt”. Der Zweifel breitet sich aus. Wenn wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass irgendwie jeder in einer arbeitsteiligen Welt seinen Job macht, müssen wir anfangen, für alles alternativ vorzuplanen. Die Bahn könnte nicht kommen. Der Bäcker hat vielleicht Lust, mal auszuschlafen. Haben die Kollegen in der anderen Abteilung die Vorarbeit getan, die ich brauche, um ein Projekt zu Ende zu führen? Wir kennen den Satz: “Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht”. Manche lesen den Satz ironisch als Freifahrtsschein für Egoismus. Aber drehen wir es doch mal um: Wenn die einen für die anderen mitdenken sollen, geht oft schneller etwas schief: Kommunikation über mehrere Ecken ist wie stille Post. “Aber ich dachte, du meinst”…”ich ging davon aus, dass”…”wie konntest du nur glauben, ich wollte…” Eigene Ideen, vermischt mit Fremdwünschen, gepaart mit unbestimmten Begriffen und unvollständigen Informationen: der ideale Nährboden für Chaos. Was anfangs helfen sollte, nämlich Arbeitsteilung, wird zum Gewirr der Verantwortlichkeiten.
Es gibt die Spielart dieses Satzes in der Ökonomie, frei nach Adam Smith: Wenn jeder sein eigenes Wohl verfolgt, ist dem Gemeinwohl am besten gedient. Natürlich setzt das voraus, dass das Einzelwohl nicht parasitär zu Lasten des Wohls des anderen ausgeübt wird, sondern in sich selbst legitim ist. Funktioniert diese Basis der real existierenden Arbeitsteilung überhaupt noch? Oder nähern wir uns dem Ende der Ära einer funktionalen Gesellschaft?
“Nichts funktioniert mehr.”
“Niemand macht noch seinen Job.”
“Wer arbeitet, ist dumm”
usw.
Diese Sätze hören wir gerade vermehrt.
Heldensehnsucht als Falle
Macht also noch jeder seinen Job? Oder gehen wir von selbstbetrügerischen Grundlagen aus? Funktioniert die arbeitsteilig-funktionale Gesellschaft vielleicht nur, wenn wir den Selbstbetrug in die Mitte stellen? In der Politik und der öffentlichen Sphäre der Medien wird ja nicht das Modell Adam Smiths unterstellt, sondern gerne mit dem Menschenbild des barmherzigen Samariters hantiert. Sobald es weg von der Ebene der individuellen Sphäre hin zum “großen Ganzen” geht, gehen wir wie selbstverständlich davon aus, dass auch hier die Arbeitsteilung funktioniert: Denn die Aufgabe und der “Zuständigkeitsbereich” des Politikers ist eben das Gemeinwohl, nicht sein Eigeninteresse. Damit verlangt das Funktionieren der Politik den (Aber)glauben der Vielen an die moralische Besonderheit des Einzelnen.
Der Politiker, der erfolgreich sein will, muss andere daran glauben lassen, dass es ihm eben nicht um Eigeninteressen geht. Also anders als dem Bäcker, dem Metzger, dem Arzt oder Kaufmann, Lehrer oder Polizisten, der ihn wählen soll. Der Politiker ist nach unserem Modell also philosophisch ein Übermensch, statistisch eine Ausnahme, moralisch ein Exempel und dramaturgisch ein Held. Wer das glaubt, wird selig. Und bleibt es für immer, denn selbst wenn das Vertrauen enttäuscht wird (und das passiert spätestens alle vier Jahre und gerade permanent), darf eines nie und nimmer untergehen: Unser fester Glaube an den Selbstbetrug.
Unsere Mediendemokratie beruht also auf der fixen Ideen einer masochistischen Selbsttäuschung, die nie enden darf. Denn die Demokratie ist doch von allen schlechten Modellen immer noch das beste, meinte mal Churchill. Der mochte bekanntlich den Brandy und schoss auf demonstrierende Frauenrechtlerinnen oder Verbündete. Also glauben wir ihm mal. Oder?
Mit der Vertrauensenttäuschung beginnt nicht das Chaos, sondern erst die eigentliche Arbeit. Wo Vertrauen enttäuscht wird, beginnt das Neue. Enttäuschung erzwingt Selbstermächtigung. Denn dann wandert Verantwortung von anderen zurück zu einem selbst. Im Gespräch mit Patrick Reiser, den ich seit Jahren kenne und schätze, haben wir die aktuelle Vertrauenskrise in den Medien beleuchtet. Auch hier gilt: Wer anderen alles glaubt, ist am Ende selbst schuld. Das gilt für den Mainstream – und natürlich auch für mich.
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Vertrauen reduziert Komplexität (Luhmann), Vertrauen schafft Geschwindigkeit (Covey).
Ohne Vertrauen stirbt jede Gemeinschaft.
Arbeitsteilung und "the rule of law" suggerieren allerdings etwas anderes. Sie reduzieren die Interaktionen auf Verträge. Wo Verträge sind, braucht es kein Vertrauen mehr zwischen den Vertragsparteien, denn wer den Vertrag nicht einhält, wird bestraft. Nur darauf, also auf die Vertragsinstanz bzw. eine den Vertrag durchsetzende Instanz muss vertraut werden. Der Rest ist mechanisch.
Und da ist auch etwas dran. "Pacta sunt servanda" funktioniert.
Doch das ist nur eine Marko-Sicht. Wenn man näher hinschaut, dann funktionieren Verträge nur, weil bei ihrer Erfüllung unendlich viele nicht vertraglich geregelt Interaktionen stattfinden. Dort ist das Reich des Vertrauens.
Es ist ähnlich wie Newtonsche Physik vs Quantenphysik: Auf einem gewissen Level ist Newtonsche Physik völlig ausreichend. Damit lassen sich Dampfschiffe bauen. Doch wenn man genauer hinschaut... dann liegt darunter etwas gänzlich anderes: die Welt der Quantenphysik. Sie hat eigene Gesetze.
Wer meint, die Welt würde am besten in vertraglich geregelter Arbeitsteilung gestaltet, unterliegt einem mechanistischem Weltbild. Das ist die Gedankenwelt von Bürokraten und des Sozialismus (bzw. Zentralismus).
Doch wie schon das OSS in seinem Sabotagehandbuch empfahl: Wer ein System zum Erliegen bringen will, muss nur darauf pochen, dass die Regeln 100% eingehalten werden.
Vertrauen ist Schmierstoff. Vertrauen ist ein Puffer. Vertrauen verbindet, ohne zu verschweißen.
Ohne all das läuft die Gesellschaft auf blankem Metall und reibt sich auf bis zum Stillstand.
Altruismus kann man nicht postulieren; der Einzelne entwickelt ihn im Zuge seiner persönlichen Entwicklung, oder er entwickelt ihn nicht.
Als Früchte unserer vermurxten kulturellen Situation laufen wir alle mehr oder weniger maskiert herum; maskiert nicht nur gegenüber unserer Umgebung, sondern auch gegenüber uns selbst.
Wer spürt, dass er weitab von „sich selbst“ ist, hilfloses Opfer seiner Vorurteile und Vorlieben, und versucht, nach und nach herauszufinden, was eigentlich los ist – der findet nach und nach auch Zugang zu sich selbst und zu seiner sozialen Umgebung. Und wenn er sich für seine soziale Umgebung oder für einen Gegenüber einsetzt – so nicht aufgrund eines abstrakten frömmelnden Barmherzigkeitspostulats oder aufdiktierter „sozialer Verantwortung“, sondern auf Augenhöhe unter seinesgleichen.
Mir scheint, dass wirklich funktionierende Zusammenhänge nur durch bewusst ihre Vermurxtheit durchbrechende Einzelne möglich werden; gescheite oder frömmelnde Programme bringen da nix.
Ist keine Theorie; hab das selbst durchlaufen und durchlaufe es weiter; weiß, wovon ich rede.
Nur mal so kurz und knapp