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Wenn Wohlstand den Geist verflacht

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Wenn Wohlstand den Geist verflacht

Wo gibt es eigentlich noch geistig tiefe und unverbildete Menschen?

Milosz Matuschek
Mar 2
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Spätrömische Dekadenz (Bild: Netzfund)

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In dem Buch “Wir amüsieren uns zu Tode” des Medienwissenschaftlers Neil Postman wird die These aufgestellt, dass wir uns in einer Spassgesellschaft befinden, die langsam aber sicher alle Schichten der Gesellschaft erreicht. “Unterhaltung ist Terror” wusste schon in den 60er Jahren der Technikphilosoph Günther Anders. Denn Unterhaltung kapert die Aufmerksamkeit auf unerbittliche Weise. Ein Text darüber, warum ich mir in Gesellschaft oft am falschen Platz vorkomme.

«Gehst du schon?» – «Ja, ich muss leider los.» Das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich muss nicht. Ich will. Immer öfter verlasse ich Gesellschaften, Essenseinladungen, Partys oder Treffen mit Bekannten vorzeitig. Es sind Langweile, Überdruss und Traurigkeit, die mich zur Tür hinaustreiben. Mit jedem Buch in der Hand allein auf einer Parkbank wäre ich in interessanterer Gesellschaft, so mein Eindruck.

Leicht dosierte Distinktionsgesten

Dem römischen Satiriker Petronius verdanken wir das «Gastmahl des Trimalchio», die Beschreibung der Party eines freigelassenen Sklaven, der es zu unermesslichem Reichtum gebracht hatte. Es ist die vermutlich eindrücklichste Beschreibung dessen, was Neureiche bis heute tun, wenn sie sich amüsieren: Sie füllen innere Leere durch Exzentrik. Bei Trimalchio wechseln sich exotischste Speisen, wie ein mit Federn als Pegasus verkleideter Hase, teuerste Weine und skurrile komödiantische Einlagen ab. Die Dekadenz kulminiert in der Inszenierung des eigenen Begräbnisses. Trimalchio darf als Erfinder des antiken Jetsets gelten.

Die moderne Tischgesellschaft, selbst unter sogenannten Akademikern oder Bildungsbürgern, ist die demokratisierte Fassung des antiken Gastmahls. Mit weniger Popanz, Inszenierung und Dekadenz zwar, aber ähnlich inhaltsleer und selbstbezüglich. Wir sitzen auf Rattan in überdekorierten Wohnzimmern, streicheln Apple, grillieren auf Weber-Fabrikaten von der Größe eines Kleinwagens und ergehen uns sonst noch in Selbstbestätigung, gegenseitiger Anerkennung für Einrichtungsgegenstände und leicht dosierten Distinktionsgesten – so viel Bourdieu hat noch jeder internalisiert.

Das Gesprächsniveau am Tisch verhält sich dabei oft indirekt proportional zur Höhe des Durchschnittseinkommens. Der klassische Bildungsbürger wird langsam abgelöst durch ein akademisch zertifiziertes, aber intellektuell desinteressiertes Diplom-Proletariat aus Ärzten, Juristen, Lehrern, Bankern und Ingenieuren. Wir haben uns in einen Zustand der Wohlstandsbehinderung hineinpäppeln lassen.

In solchen Runden wird nicht mehr deklamiert, propagiert, agitiert, musiziert, rezitiert und aus zu großen Flaschen zu schlechter Rotwein getrunken. Die großen Themen sind ohnehin auserzählt, tot und zu riskant. Man ist schließlich nicht anwesend, um Irritationen, Widerstände oder Zurückweisung zu erleben, geschweige denn, etwas Neues zu erfahren. Stattdessen ergeht man sich in der Kommentierung der unmittelbaren Gegenwart: große Pfeffermühlen, der perfekte Garzeitpunkt des Fleisches, Herkunft und ideale Röstung von Kaffee, der Preis der Weinflasche, die neueste Sorte Himalajasalz. Wer zu diesem Stichpunktekarussell so gar nichts beizusteuern hat, verfügt vielleicht noch über eine exotische Nahrungsmittelunverträglichkeit, um sich interessant zu machen.

Der Esprit von früher ist einer Reaktionskompetenz bei Reizwörtern gewichen. Fällt ein bestimmtes Stichwort, dann erwacht die Sorte Stand-by-Mensch kurz aus seinem Dämmerzustand, um den gegenwärtigen Konsens der Twitter-Timeline abzuspulen. Wir kommunizieren selbst analog bereits in «Hashtags», «Retweets» und «Gefällt-mir's». Bewundert wird, wer up to date ist – ein Zustand, der sich dank Smartphones während eines kurzen Gangs auf die Toilette herstellen lässt, sofern man das mobile Endgerät nicht gleich schon am Tisch benutzt, um es regelmäßig zu tätscheln wie der James-Bond-Bösewicht sein weisses Kätzchen.

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Im letzten Akt dieses Trauerspiels werden die Fotos des Abends auf Facebook hochgeladen, um den Gepeinigten für die Dokumentation der Leere wie zum Hohn auch noch ein «Gefällt mir» abzuringen. Trimalchios Bestattung 2.0.

Talks aus dem Halbwissensspeicher

Kann es sein, dass gegenwärtig unser Wohlstandsniveau zu stark am Einkommen gemessen wird? Dass wir reicher werden und innerlich verarmen? Der Prozess der Wohlstandsverwahrlosung ist in bestimmten gesellschaftlichen Schichten so schleichend wie unausweichlich. Der Gelderwerb, der das Wohlstandsniveau des Mittelstands sichern soll, ist derart zeitintensiv, dass die Beschäftigung mit vordergründig «Nutzlosem» zum Luxus wird. Was bleibt, ist dann auch für die gebildete Schicht das, was Thorstein Veblen in seiner «Theorie der feinen Klassen» den «Geltungskonsum» nannte.

Dänische Vintage-Designer-Möbel müssen als dezenter Nachweis für Kultiviertheit genügen. Das eigentliche Opfer dieses Talks aus dem Halbwissensspeicher des Kurzzeitgedächtnisses ist das klassische Gespräch. Das Gastmahl der Geistlosen ist der Leichenschmaus für eine Kulturtechnik: die Fähigkeit, zuzuhören, ausreden zu lassen, Gedanken reflektiert wiederzugeben, sie weiterzuspinnen und damit etwas Drittes zwischen Ich und Du entstehen zu lassen – eben das Gespräch, das den Abend alimentiert und dadurch kurzweilig macht. Wo dieser Mindeststandard nicht gesichert ist, bleibt einem nur übrig, die richtig guten Flaschen Wein nicht mehr in Gesellschaft zu vergeuden, sondern alleine zu trinken.

Dieser Text erschien zuvor in der NZZ.


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31 Comments
Daniel Wettstein
Mar 2

wie so oft in den letzten zwei drei Jahren - eine gute, harte aber leider zutreffende Analyse. Mir passiert es auch öfters, dass in einer Runde eigentlich nichts tiefgründiges mehr diskutabel ist. Sobald irgend ein Stichwort zu einem der aktuell überall - in den Medien welcher Art auch immer - bekannten Reizthemen fällt ... bitte heute und hier nicht dieses Thema. Am Schluss bleiben genau die angesprochenen Garpunkte und das Wetter solange es nichts mit Klima zu tun hat. Danke Herr Matuschek

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Beate S
Mar 2

Ja, das passiert uns auch mit manchen alten Freunden (nicht mit allen). Aber in der Lockdown-Zeit fanden wir neue Kreise (Ungeimpfte, die sich heimlich trafen), und wo jetzt die tiefgründigen Gespräche viel Raum haben. Der "Bildungsgrad" ist dabei sehr gemischt und nicht mehr von Bedeutung.

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