Der Fall Assange betrifft uns alle
Assange ist ein Fieberthermometer der Freiheit. Zwei Texte aus aktuellem Anlass.
Soeben wurde gerichtlich entschieden, dass der Auslieferung von Julian Assange an die USA nichts mehr entgegensteht. Der Ball liegt jetzt im Feld der britischen Innenministerin. Sie lesen hier aus gegebenem Anlass zwei Texte, einen von Montag aus der Weltwoche und einen vom Januar 2020 aus dem Feuilleton der NZZ.
Julian Assange: Märtyrer der Pressefreiheit
Sein Exempel zeigt, was westlichen Journalisten blüht, wenn sie es wagen, Kriegsverbrechen offenzulegen, die Staaten lieber verstecken wollen
Man muss sich den Wikileaks-Gründer Julian Assange heute als gebrochenen Mann vorstellen: Mehrere Jahre auf engstem Raum in der ecuadorianischen Botschaft in London, danach drei Jahre Isolationshaft im Belmarsh Prison, was laut dem Sonderberichterstatter der Uno, Nils Melzer, ein Fall von psychologischer Folter war; und nicht zuletzt ein endloser, zermürbender Schauprozess um die Auslieferung an die USA, der nun als verloren gelten muss. Juristisch ist der Rechtsweg in England fast erschöpft, es bleibt nach einer letzten Berufung nur noch der Gang nach Strassburg, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In den USA droht der finale Prozess, die Anklage lautet auf 175 Jahre Haft wegen unter anderem Spionage. Es wäre ein Todesurteil für Assange. Wie viel kann ein Mensch aushalten?
Doch man muss sich Julian Assange auch als Symbol vorstellen, als Gradmesser für Freiheit im Westen. Und in dieser Funktion als Symbol ist er ungebrochen. Am Zustand von Assange können wir den Zustand der Pressefreiheit ablesen. Und hier machen die Regierungen der USA und Grossbritanniens den spektakulärsten aller Fehler: Sie machen Assange aktuell zum Märtyrer und sich selbst zu Vollstreckern und Henkern. An der Art, wie sie Julian Assange behandeln, für die gesamte Weltöffentlichkeit sichtbar, leisten sie den Offenbarungseid auf die westliche Wertgemeinschaft: Humanismus, Menschenrechte, Rechtsstaat werden aus machtpolitischem Kalkül geopfert.
Und die Regierungen in aller Welt halten still.
Die deutsche Aussenministerin Baerbock, vom Völkerrecht kommend und daher mit dem Begriff der Folter vertraut, wollte sich vor der Wahl noch für Assange einsetzen, jetzt, nunmehr in der Regierung, sieht sie plötzlich keinen Handlungsbedarf mehr. Man will an Assange ein Exempel statuieren: Das, liebe Journalisten, blüht euch, wenn ihr es wagt, Kriegsverbrechen oder sonstige Schweinereien offenzulegen, die man hinter der Barriere der «arcana imperii», der Staatsgeheimnisse, lieber versteckt sehen will.
Die Kriegsverbrecher in Afghanistan oder im Irak bis in die oberste Führungsschicht der USA und Grossbritanniens sind bis heute unbehelligt. Angriffskriege sind persönlich risikoloser als kritische Berichterstattung darüber.
Wer seine Aufgabe als Journalist in Zukunft so radikal transparent erfüllen will wie Assange, muss sich dafür einen Staatsfeind schimpfen lassen und gilt quasi als vogelfrei. Die Causa Assange ist der Skandal unserer Zeit, die sichtbarste brutale Ungerechtigkeit, die an einer Einzelperson durchexerziert wird, der grösstmögliche Verrat an den eigenen Werten.
Je offensichtlicher Julian Assange zum Märtyrer für die Pressefreiheit gemacht wird, desto deutlicher wird jedem, dass hier das Feld der Demokratie und des Rechtsstaats verlassen worden ist. In einem wahrlich freien Westen kann es per Definition keine Dissidenten geben; wer versucht, andere für die Veröffentlichung wahrer Tatsachen zur Strecke zu bringen, hat ganz offensichtlich die Seiten gewechselt und Demokratie gegen eine Form von Feudalherrschaft eingetauscht.
Wer so handelt, handelt aus Panik, Hilflosigkeit und Angst vor Aufklärung und Rechenschaft. Ihnen allein sei ins Stammbuch geschrieben, was schon Emile Zola wusste, als er sein berühmtes «J’accuse» veröffentlichte: Die Wahrheit ist auf dem Weg und nichts wird sie aufhalten.
Text vom 23.01.2020
Der Fall Assange: ein zynisches Spektakel
Der Fall Assange offenbart ein Justiz- und Medienversagen ersten Ranges. Dabei geht es nicht nur um Assanges Leben, sondern auch um den Freiheitsbegriff der westlichen Welt.
«Die Wahrheit wird euch frei machen», heißt es im Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 32. Ein ähnlicher Grundsatz gilt inhärent in den Verfassungen der westlichen Welt. Die Freiheit der Meinung, der Presse, der Information und der Wissenschaft ist ohne das «Truth Principle» John Stuart Mills kaum denkbar: Ohne Freiheitsrechte keine Wahrheitsfindung; ohne Wahrheitsfindung keine informierte Entscheidung; ohne informierte Entscheidung keine Demokratie.
Zynismus: erster Akt
Wie viel ist davon noch übrig, wenn Julian Assange in Wahrnehmung dieser Rechte in einem britischen Gefängnis sitzt und auf seine Auslieferung in die USA wartet? Die Causa Assange steigert sich immer mehr zu einer Mischung aus Justizfarce und Mediengroteske.
Zugegeben: Julian Assange hat mit der Enthüllungsplattform Wikileaks eine brutale Fabrik der Wahrheit gegründet. Doch keine Information, die Wikileaks veröffentlicht hat, hat sich je als falsch herausgestellt. Insofern hat er nichts gemacht, was nicht auch jeder Verleger macht beziehungsweise zu machen beansprucht. Die Veröffentlichung der Clinton-E-Mails war laut bundesgerichtlichem Urteil ebenfalls rechtmäßig. Die Vergewaltigungsvorwürfe haben sich nach neun Jahren ergebnisloser Ermittlungen in Luft aufgelöst. Seine Strafe wegen Verletzung von Kautionsauflagen hat er seit dem 22. September abgesessen – doch er sitzt immer noch in Einzelhaft, mit erschwertem Zugang zu Dokumenten und Anwälten.
Es ist zynisch, dass ausgerechnet der Überbringer von Wahrheiten nicht etwa mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird, sondern laut dem Uno-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, psychologischer Folter ausgesetzt ist. Jüngst schlugen über sechzig Ärzte Alarm, dass Julian Assange in der Haft sterben könnte. In Großbritannien, dem Gründungsland der Demokratie und dem Mutterland der Menschenrechte (die Magna Charta Englands stammt aus dem Jahre 1215), könnte im Jahre 2020 ein unverurteilter Mensch in Isolationshaft zugrunde gehen, weil er der politischen Welt den Spiegel vorgehalten hat.
Assange soll offenbar als Schmerzensmann herhalten, er wird zum «Homo sacer» (Giorgio Agamben) gemacht, an seinem nackten Leben entscheidet sich die Frage der Souveränität zwischen Einzelnem und dem Staat. Doch der staatliche Ausnahmezustand, in dem er gehalten wird, ist eine Panne in der Matrix des Rechts. Denn der Rechtsstaat kennt in Sachen basaler Grundrechte keinen Ausnahmezustand.
Für Assange gilt wie für jeden Menschen das Verbot der Folter, der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung, nicht zuletzt aufgrund Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die auch Großbritannien bindet, Brexit hin oder her. Für jede unter staatliche Aufsicht gestellte Person, die körperliche oder seelische Misshandlung erlebt hat, gilt zudem die Beweislastumkehr: Der Staat muss beweisen, dass er diese Person nicht der Folter oder unmenschlicher, erniedrigender Behandlung ausgesetzt hat.
Was der britische Staat hier zur Schau stellt, ist die Doktrin des «might is right» – wer die Macht hat, hat recht. Das ist nicht nur eine Verletzung der Majestät des Rechts, es ist auch töricht. Assange wird so nicht zum Aussätzigen, sondern zu einer mythologischen Figur, einem Märtyrer der Wahrheit. Jene, die ihn erniedrigen wollen, erhöhen ihn zugleich.
Zynismus: zweiter Akt
Es ist keine gute Idee, Assange öffentlich sterben und alle Welt dabei zusehen zu lassen. Die Öffentlichkeit ist alarmiert, immer mehr Journalisten berichten und solidarisieren sich. Immer mehr Politiker stellen Fragen zu dem Fall, zahlreiche Prominente wie Roger Waters von Pink Floyd, Vivienne Westwood, Pamela Anderson oder Lady Gaga stehen hinter Assange.
Der Schuss dürfte darum nach hinten losgehen: die gegenwärtige Mischung aus Justiz- und Medienversagen desavouiert den Rechtsstaat und beschädigt staatliche Autoritäten. Assange erweist sich als ein Fieberthermometer der Freiheit und der Fall Assange als Kristallisationspunkt eines demokratietheoretischen Paradoxons: In einer echten Demokratie kann es keine Dissidenten geben. Denn die Offenbarung der Wahrheit ist entweder Teil der demokratischen Grundrechte, oder Letztere sind ausgesetzt. Dann aber ist Demokratie nur noch Fassade.
Man muss die Demokratie mit dem italienischen Publizisten Paolo Flores d’Arcais beim Wort nehmen und vom Schutz des Einzelnen her denken. In der Demokratie ist jeder Fürst, auch und insbesondere der Abtrünnige. An dessen Freiheit und ihrer Durchsetzung entscheidet sich, ob die Macht dem Einzelnen gehört oder einer Clique.
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh besucht. Er sieht in dessen Fall den Angelpunkt im Kampf um Privatsphäre contra Überwachungs- und Polizeistaat, dessen autoritäre Ausprägungen immer stärker werden und zugleich unsichtbar bleiben. Er hat recht – Freiheit ist eine Einheit, und sie gilt für alle gleich. John F. Kennedy hat genau dies in seiner Berliner Rede vor dem Schöneberger Rathaus im Jahre 1963 einer begeisterten Menge zugerufen: «Freedom is indivisible, and when one man is enslaved, all are not free.»
Wo sind heute die begeisterten Massen, denen die Freiheit am Herzen liegt? Assange steht für die Verteidigung universeller und besonders klassisch amerikanischer Werte im Sinne der Gründerväter. Auch Thomas Jefferson glaubte fest an den Common Sense der Menschen, er sah in der Öffentlichkeit eine Art Richter, der sein Urteil selbständig fällt und auch zwischen wahr und falsch unterscheiden kann, wenn ihm nur alle Informationen vorgelegt werden.
Es ist unnötig, Assange parteilich einzuordnen, denn die Wahrheit gehört niemandem, weder links noch rechts und Putin schon gar nicht. Doch Assange operiert nicht im luftleeren Raum. Sein Denken ist von libertären Ideen geprägt, er gehört der Gruppe der Cypherpunks an, einer losen Vereinigung von Programmierern, die sich seit den 1980er Jahren der Freiheit der Kommunikation, der Privatsphäre, der Information und des Geldes auf prinzipielle Weise verpflichtet fühlen. Auf das Konto dieser Bewegung geht die Möglichkeit der verschlüsselten Kommunikation (PGP), der freie Informationsaustausch über Filesharing (Bittorrent), freies, unzensierbares Geld ohne zentralen Akteur (Bitcoin) sowie der Zugang zu ungefilterter Wahrheit (Wikileaks).
Ist es nicht bemerkenswert? Die Gralshüter von Wahrheit, Freiheit und realem Wert sind gerade nicht Zentralbanken, die EU-Kommission, große Menschenrechts-, Juristen- oder Journalistenvereinigungen oder gar Kirchen dieser Welt. Die Gralshüter sind eine Handvoll freiheitlich gesinnter Programmierer, die weniger die Bibel als vielmehr Mises, Hayek, Rothbard und Ayn Rand gelesen haben.
Zynismus: Schlussakt
Assange wurde oft als paranoid bezeichnet. Dabei sollte man beachten, dass er seit Jahren in einer kafkaesken Situation ist, in der alles unterhalb der Schwelle von Paranoia wohl dem Reich der Naivität zuzuordnen wäre. Die neuesten Entwicklungen geben ihm recht: Unlängst wurde bekannt, dass die CIA über eine spanische Sicherheitsfirma Assange (und damit alle seine Besucher, Anwälte, Journalisten) in der ecuadorianischen Botschaft rund um die Uhr bespitzelt hat, mit einer Wanze selbst auf dem WC. Der eingesperrte, private Wahrheitsüberbringer wurde von einem staatlichen Nachrichtendienst verfassungswidrig überwacht.
Wer das Gebäude der CIA betritt, findet in der Eingangshalle übrigens diesen Satz:
«And ye shall know the truth and the truth shall make you free.»
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Der Fall Assange ist in seiner ganzen Brutalität ebenso wie andere Freiheitsberaubungen und "Maßnahmen" ein Zeichen für die stalinistische Phase des "Westens". Ein System, das seinen nahen Tod spürt, zieht die Schraube noch einmal an.
"Eine moralische Haltung in der Politik neigt dazu, moralische Rechtfertigungen für Verbrechen zu liefern"
Hanna Arendt
(Zit. Nach Wolfgang Heuer: Hannah Arendt)