Es lebe der Störenfried!
Freiheit ist stets die Freiheit des Andersdenkenden. Ist diese inzwischen abgeschafft?
«Der Kaiser ist ja nackt!», ruft das Kind im Märchen «Des Kaisers neue Kleider», und alle sind erleichtert. Wir freuen uns, wenn jemand die Dinge beim Namen nennt. Doch leider in der Realität eben oft erst später, aus der sicheren Entfernung und nach der Bestätigung durch die Zeitläufte. Ist das nicht eigenartig?
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Ungehorsam ist seit Adam und Eva oder Prometheus über Galilei, Tell und Voltaire bis zu den Dissidenten von heute der Treibstoff, der das Rad der Zeit am Laufen hält. Und doch bilden wir selbst in den freiesten Gesellschaften Strukturen in Wissenschaft, Politik und öffentlicher Meinung heraus, welche den Widerspruchsgeist lieber nur pro forma fordern und doch kaum fördern. Die einflussreichsten Denker der Moderne, so Nassim Nicholas Taleb waren Darwin, Marx, Freud und der produktive Einstein: allesamt Gelehrte und keine primär akademischen Eigengewächse.
Die selbsthypnotisierte Gesellschaft
Das Dilemma des Fortschritts ist die fehlende Synchronizität zwischen der Notwendigkeit und ihrer Wertschätzung. Der Grund dafür liegt in dem Graben zwischen dem Jetzt und dem Danach, zwischen dem Status quo und der Ungewissheit. Alles strebt nach Ordnung, das Chaos gilt es zu vermeiden. Der Satz Nietzsches, man müsse noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären, gefällt als Kalenderspruch aber nicht als Lebensprinzip für den Alltag.
Gerade scheint sie wieder besonders spürbar zu sein, diese Periode der Bewegungslosigkeit, des verhinderten Übergangs. Die gesellschaftlichen Kräfte werden auf Zeitlupe geschaltet, in ein Weiter so gedrängt, um das Jetzt künstlich zu verlängern und den Bruch zu vermeiden. Wir sehen es an der Verlangweilung der Politik durch «asymmetrische Demobilisierung», in der Diskursvermeidung im öffentlichen Raum und in der Selbsthypnose des allgemeinen Gefälligkeitsdenken.
Ungehorsam als Motor des Fortschritts
Ungehorsam ist seit Adam und Eva oder Prometheus über Galilei, Tell und Voltaire bis zu den Dissidenten von heute der Treibstoff, der das Rad der Zeit am Laufen hält. Doch eine Gesellschaft, welche die Aversion vor dem Störenfried kultiviert, statt ihn produktiv zu integrieren, die also auf Narkotisierung, gouvernantenhaftes Beschwichtigen, Schweigen oder Denunziation ausweicht, statt sich zu stellen, verlängert oft nur die Zündschnur eines zunehmend explosiven Problems, wie der Philosoph Dieter Thomä («puer robustus») in einer sehr erhellenden ideengeschichtlichen Studie über den Störenfried zeigt. Das aus der Spur schlagende Kind bekommt heute eine ADHS-Diagnose angedichtet und Ritalin verschrieben. In Form der Generation Y sehen wir eine industriell geformte Kohorte gefügiger junger Menschen, welche die Bubble ihrer Legebatterie für Freilandhaltung hält und Nonkonformismus als Pose kultiviert.
Nicht die Welt ist gerade aus den Fugen, sondern der Prozess ihrer Erneuerung. Im Rad der Zeit klemmt und knirscht es. Die natürliche Abfolge von Alt und Neu ist gestört. Das Leben ist erst dann reich und aufregend, wenn die Empfindung intakt ist, dass letztlich jeder ein kleiner Baumeister dieser Welt ist, die niemandem ganz gehört sondern jedem ein bisschen. Goethe ging davon aus, dass man mehrere Leben in einem haben kann, wenn man die Erschütterung sucht und kein Angst vor dem symbolischen Tod hat, dem Ende einer Periode, einer Rolle, eines Glaubenssystems: das gilt für Berufe, Beziehungen, das persönliche Selbstverständnis und auch für Gesellschaften:
«Und so lang du das nicht hast, dieses: stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.»
Diese Kolumne erschien zuerst in der NZZ. In Zeiten zunehmenden Konformitätsdrucks scheint sie mir aktueller denn je.
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Der ZUGELASSENE Ungehorsam der Kinder wäre ein solcher Nährboden für eine künftige freiheitliche, gerechtere und auch friedlichere Gesellschaft, eine solidarische in diesem Sinne auch.
Aber damit haben ja schon die Eltern ein großes Problem, mit der Duldung des Ungehorsams, des Widerspruchs ihrer Kinder.
Schon im *Hort* beginnt dann die Zucht, das NEIN-sagen wird abtrainiert, belohnt wird der Jasager.
Zumindest *Ziviler Ungehorsam* und *Freiheitskunde* sollten doch als Unterrichtsfächer dann in der Schule gelehrt werden - entsprächen sogar der Verfassung.
Mag es das in einer gewissen minimalen Form in der Schweiz z.B. geben -
fehlt das im *Teutschen Zuchtsystem* völlig, traditionell auch.
Und wenn wenigstens die Jugend noch rebellieren dürfte...
Staatlich - systemische Indoktrination zu einem uniformen Konformismus - dahin geht diese furchtbare Reise mehr und mehr.
Wir wollen dabei nicht die Schelme und die Trickster vergessen, Störenfriede aller Zeiten und Länder. https://marthacarli.com/schelmenakademie/