Was wäre, wenn der Mensch mal an sich selbst glaubte?
Ist es der tiefsitzende Gehorsam gegenüber Autoritäten, der uns von echter Freiheit abhält? Eine Spurensuche.
Dies ist der vierte Teil der Serie “Morgenröte der Freiheit”. Lesen Sie auch Teil 1, Teil 2 und Teil 3. In Teil 5 wird es darum gehen, wie man parallele Strukturen baut.
«Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten», notierte der Genfer Philosoph Rousseau am Anfang seines Traktats «Über den Gesellschaftsvertrag». Frei und zugleich in Ketten? Ein seltsamer Zustand, außer wohl für Rousseau, bei dem eher die Gesellschaft den Einzelnen gestaltete, statt umgekehrt. Oder kann man theoretisch frei und praktisch unfrei sein?
Mit Blick auf heute wäre man stark geneigt zu sagen: ja. Freiheit ist ein teilbares Phänomen geworden. Da ist einerseits die freiheitsverbürgende Funktion der Grund- und Menschenrechte, die offiziell unangetastet sind und den würdebegabten Menschen als Subjekt in das Zentrum der Rechtsordnung stellen und zugleich sieht man allerorten, wie der Begriff der Freiheit in sein Gegenteil verkehrt wird. Regierungen auf der ganzen Welt arbeiteten in den letzten Monaten mit Druck und Zwangsandrohung bei den Impfungen. Wer Freiheitsverzicht groß schrieb, wurde mit einer Solidaritätsplakette belohnt.
Selten wurde das Gegenteil von Freiheit so unverschämt als Freiheit deklariert, wie in Zeiten von Corona, wenn Politiker verkündeten: «Wir impfen uns den Weg zurück in die Freiheit». Wenn eine Mehrheit es akzeptiert, dass Folgsamkeit als Freiheit etikettiert wird, ist sie auf einen begrifflichen Taschenspieler-Trick hereingefallen. 2+2 ergibt zwar immer noch 4, aber die Mehrheit hat dann auch nichts gegen 5 als Ergebnis. Ab diesem Punkt gilt die Warnung Voltaires: «Wer andere dazu bringt, Absurditäten zu glauben, kann sie auch dazu bringen, Gräueltaten zu begehen.»
Das Dilemma der freiwilligen Unterwerfung
Der begriffliche Freiheitsentzug geht heute dem tatsächlichen voraus, ohne ihn als solchen noch zugeben zu wollen. So banal dies ist, so effektiv ist es auch. Denn tatsächlicher Freiheitsentzug in repressiven Systemen facht die Sehnsucht nach Freiheit an. Spürbare Einschränkungen der Freiheit sind heikel, Eindämmungsversuche teuer. Es sei denn: Sie geschehen freiwillig. Die Wahrnehmung der Freiheit endet dann in einer Form der freiwilligen Selbstkontrolle.
Hier liegt der Unterschied zwischen klassisch-autoritären Systemen und den neuen manipulativ-autoritären Systemen, in welche sich aktuell eine Demokratie nach der anderen verwandelt. Die Freiheitsfolklore maskiert den Freiheitsentzug als freiwillige Entledigung. Wer sich den Ketten der Umstände beugt, ist offiziell frei, aber in etwa so frei wie die Kuh, die sich aussuchen darf, ob sie den linken oder rechten Eingang ins Schlachthaus wählt. Dazu passt eine Umfrage des Senders RTL, der im August 2022 seine Zuschauer fragte, ob sie die neuen Maßnahmeregeln in Deutschland für den Herbst «sinnvoll» finden oder ob diese Regelungen nicht weit genug gehen. Nach Ablehnung war gar nicht gefragt.
Die «Freiwillige Knechtschaft» oder «servitude volontaire» ist zur Stunde die gefährlichste Bedrohung für die Freiheit. Freiwillige Knechtschaft ist für die Freiheit, was der Suizid für das Leben ist. Der junge Philosoph Etienne de la Boétie hat diesem Phänomen schon im 16. Jahrhundert ein Traktat gewidmet. Und zeigt darin exemplarisch, dass Macht und Knechtschaft keine Automatismen sind, sondern die Macht des Einzelnen nicht ohne das Zutun des Beherrschten möglich ist:
«Der Unterdrücker hat weiter nichts als die Macht, die Ihr ihm zugesteht, um Euch zu unterdrücken. Woher hat er genügend Augen, Euch auszukundschaften, wenn Ihr sie ihm nicht selbst liefert? Woher soll er die vielen Arme haben, Euch zu schlagen, wenn er sie sich nicht von Euch ausborgt? Wo bekommt er die Füsse her, Eure Städte niederzutrampeln, wenn es nicht Eure eigenen sind? Wie kann er Gewalt über Euch haben, wenn nicht durch Euch selbst? Wie könnte er es wagen, Euch zu überfallen, wenn nicht mit Eurer eigenen Mitwirkung?»
Dies gilt besonders in einer Zeit wie unserer, in der autoritäre Kräfte wieder Zulauf bekommen. „Nicht Diktaturen schaffen Diktatoren, sondern Herden", wusste der französische Schriftsteller Georges Bernanos. Die gleiche Idee hatte der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer in Nazihaft, als er sich die Frage stellte, warum so viele Menschen einem verbrecherischen Regime Folge leisten. Er machte dafür die allgemeine Verblendung verantwortlich: Wer sich selbst zur Herde stellt, delegiert eigenes Bewusstsein an eine Autorität und verschafft ihr dadurch Macht. Der Machtzuwachs des einen braucht die Dummheit (oder Verblendung) der vielen.
Es braucht also die Irreführung, die Täuschung und Manipulation, um den Menschen zur Preisgabe der Freiheit zu bewegen. Der natürliche Zustand ist die Wahrnehmung der eigenen Freiheit. Schon der junge Boétie wusste, dass die Sehnsucht nach Freiheit im Menschen tief verwurzelt und letztlich unausrottbar ist. Die Geschichte lehrt es uns immer wieder: Selbst in Hochphasen religiöser, staatlicher oder ideologischer Repression des Denkens war diese Sehnsucht existent und vital.
Der Kampfplatz um die Freiheit ist deshalb heute das Feld des Bewusstseins, des Geistes, des Kopfes. Die Freiheit des Einzelnen wird eher unterwandert als unterdrückt, sie wird geformt und manipuliert, mit Anreizen gefügig gemacht, verführt, verwirrt oder verängstigt. Die Freiheitseinschränkung von heute erfolgt durch Untergrabung des Willens zur Freiheit, durch Belobigung des Unwillens als tugendhaft und durch das Schüren der Angst vor der Freiheit.
Echte Freiheit vs. Fake-Freiheit
«Der Mensch wird frei geboren, für eine juristische Sekunde, doch dann liegt er in den Ketten von Gehorsamskulten», müsste man Rousseau heute ergänzen. Ein eigener Gestaltungswille hat Sprengkraft für jedes System. Die Erziehung des Menschen ist daher darauf gerichtet, die Knechtschaft als normal, vielleicht sogar als vorteilhaft zu empfinden. Die Prägung durch elterliche Autoritäten, staatliche Lehrer und Professoren, die Religionsgemeinschaft, die Peer-Group des Freundes- bzw. Kollegenkreises, den Arbeitgeber. Alle helfen mit, dass man ein «anerkanntes und wertvolles» Mitglied der Gesellschaft wird und bleibt; ein Mitglied, das sich als systemerhaltend und systemstützend begreift und diesem Ziel den eigenen Willen unterordnet.
Für Erich Fromm steckt im Widerstreit zwischen Gehorsam und Ungehorsam letztlich der Kampf zweier Lebenskräfte, die wir auch bei uns selbst beobachten können. Die eine Kraft drängt uns nach außen, ins Abenteuer, ins Leben, ins Licht. Wir wollen die Welt erobern, etwas konstruieren und schaffen, also letztlich selbst ein aktives Element sein. Die andere Kraft hält uns zurück, lässt uns der Sehnsucht nach Abhängigkeit, Passivität, Versorgung und Schutz nachgeben, nach dem zurück in den Mutterbauch, wo man nicht mal selbst atmen musste. Hier wollen wir nicht erobern, wir wollen uns den Umständen ergeben, im Dunkeln bleiben, in der Versagung des eigenen Ichs. Wir wollen kein selbständiges Element sein, wir wollen Teil von etwas sein.
Der Gegensatz von Gehorsam ist dabei nicht unbedingt Ungehorsam, sondern vielmehr Kreativität. Diese ist die notwendige „Anmaßung“, für sich selbst und sein Leben die Schöpferrolle zu übernehmen, die den Autoritäten Gott und Eltern vorbehalten war. Ungehorsam ist Gehorsam gegenüber sich selbst, schreibt Fromm. Der Kreative schafft etwas Neues, er baut an einer neuen Welt, weil ihm die alte nicht gut genug erscheint. Der Künstler ist ja gerade kein Kunstkritiker. Er schafft neue Werke und weist anderen Künstlern, wenn er gut ist, ihren Platz zu.
Nach dem gleichen Mechanismus geht der Unternehmer vor und auch der Erfinder. Henry Ford hat keine Pferde vergiftet, um für Automobile zu werben. Mobilfunkbetreiber haben keine Telefonhäuschen zerstört, um Handys an den Mann zu bringen. Die Hollywood-Studio-Bosse haben keine Theater angezündet, um Leinwandkino populär zu machen. Die Neuerung zog dem alten System irgendwann den Stecker. Aus reiner Überlegenheit. Der Mensch als Schöpfer, als „Homo Faber“ lebt das wahre Potenzial des Menschseins. Die Gestalt der Welt verdanken wir den Rebellierenden, Kompromisslosen, Widerspenstigen. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: «Ungehorsam war des Menschen erste Tugend».
Der Weg zu diesem Veränderungspotenzial führt stets durch eine schmale Tür, die nur wenige finden und diese ist mit Verbotsschildern und Diffamierungsetiketten zugepflastert. Ob Adam und Eva, Luzifer oder Prometheus: Der Weg des Fortschritts wurde von Rebellen freigesprengt und wird seit jeher von falschen Autoritäten immer wieder aufs Neue zugemauert, versteckt oder getarnt.
Wie entdecken wir unsere Gestaltungskraft wieder?
Ungehorsam ist der Motor des Fortschritts ist, nicht Gehorsam. Wer nicht an einer neuen Welt arbeitet, arbeitet an der Welt eines anderen. Die großen Veränderungen der Menschheitsgeschichte stammen von Einzelpersonen. In dem Maße, wie Freiheit für Komfort getauscht wurde, hat der Wille zur Freiheit gelitten. Der größte Gehorsamskult der Welt kennt nur eine Parole «Du bist schwach!»
Doch es gibt keine Freiheit ohne Willen zur Freiheit. Es gibt auch keinen Willen zur Freiheit ohne Erkenntnis der tatsächlichen Knechtschaft. Es gibt kein Erkennen der Umstände ohne einen Aufwachprozess. Es gibt schließlich keinen Aufwachprozess in der Komfortzone angenehmer Suggestionen wie dem wärmenden Feuer der Herde, dem Gefühl moralischer Überlegenheit oder vermeintlicher eigener Smartheit.
Der Grad der persönlichen Freiheit hängt von der Größe des Willens dazu ab und von nichts sonst. Die Machtergreifung der wenigen ist nur möglich durch die freiwillig gewählte Ohnmacht der vielen. So wie der Mächtige gewählt hat, mächtig sein zu wollen, hat der Unterworfene beschlossen, ohnmächtig zu sein. In modernen repräsentativen Demokratien ist diese Unterwerfung als Akt der Delegation getarnt. Hier wird der Unterworfene als Souverän bezeichnet, der politische Macht auf Zeit delegiert, wenn er wählt. Dabei ist die Stimmabgabe wörtlich zu verstehen: Man gibt die Stimme ab und entledigt sich dadurch dieser, im Glauben oder im Vertrauen, die Zügel des Geschehens noch in der Hand zu haben.
Der Wille zu etwas Neuem beginnt nicht selten mit einer «Was wäre wenn?-Frage». Warum ist das Bestehende so und nicht anders? Dieser kreative Moment ist immer auch ein Akt der Auflehnung gegen das Bestehende. Selbstwirksam sein bedeutet, am Neuen zu bauen. Doch das Objekt des Neuen sucht sich jeder selbst aus. So beginnt jeder bei sich und der ureigensten Motivation, findet Mitstreiter und tritt ein in das Spiel der endlosen Kombinationen, welches das Leben ausmacht. Aus Einsamkeit wird Gefährtenschaft. Anstelle von Angst tritt Mut, der ebenso ansteckend ist. Die Welt, die man mitbaut, bekommt man.
Entdecken wir unsere Begeisterung für das Neue, wie es William Hutchison Murray in folgendem Zitat ausgedrückt hat: als Moment der Magie. Auf die Verschmelzung von Idee und Mut folgt die Geburt der Tat:
„In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt haben könnte. Was immer du kannst, oder dir vorstellst, dass du es kannst, beginne es. Kühnheit trägt Genius, Macht und Magie.
Beginne jetzt.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in Ausgabe 02/2022 des Magazins “Die Freien”.
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Großartig! Jeder Euro in diese Seite ist gut investiert. Hoffe auf hohe Verbreitung. Warum kann ich nur Teilen in Twitter ( lehne ich ab) oder gar über Facebook ( kommt nicht in Frage) nicht aber über Telegramm? Danke für den klugen, wahren Text, den ich gerne geteilt hätte.
Wieder ein hervorragender Text. Lese jetzt schon über Monate diese Texte mit Spannung. Vielen Dank dafür.