Widerstand als Weg des spirituellen Erwachens
Mit welchen Kräften haben wir es gerade auf der Welt zu tun und wie begegnen wir ihnen am besten? Antworten bei einer besonderen Begegnung.
Stellen Sie sich vor, Sie fahren durch Deutschland, weil Sie einen Dokumentarfilm über Corona drehen wollen und plötzlich merken Sie: Kein Hotel nimmt Sie noch auf, und Ihre Unterkunft bei AirBnB kündigt Ihnen wegen fehlenden Tests. Es ist November 2021. Sie sitzen mit einem befreundeten Pärchen und Ihrer Freundin bei einem Bekannten und sind quasi ab jetzt obdachlos. Dann folgen ein paar hektische Telefonate im Hintergrund. Müssen wir zurück in die Schweiz? Das Vorhaben des Filmdrehs wieder abbrechen? Nein. Die rettende Antwort taucht fast aus dem Nichts auf. Es gäbe da jemanden, der uns für ein paar Nächte Unterschlupf gewähren könnte, meint der Freund eines Freundes. Wir fahren zu besagter Adresse in der Nähe von Köln, doch die Person ist nicht persönlich anwesend. Wer lädt uns so großzügig in sein Haus und ist dann selbst nicht mal da? “Ihr werdet sie morgen treffen”, erfahren wir von Wolfgang. “Sie erhält heute den Kunstpreis NRW für ihr Lebenswerk.” Am nächsten Morgen führten wir am Küchentisch dieses Gespräch mit Mary Bauermeister, der Mitbegründerin der Fluxus-Bewegung. Sie trat auch in unserem Film “Pandamned” auf, der schließlich doch noch fertig wurde.
Mary Bauermeister verstarb am 2. März 2023.
Das Interview wurde von Lilly Gebert aufgezeichnet und erschien auch im Magazin Die Freien.
Milosz Matuschek: Liebe Mary Bauermeister, wir leben in einer Zeit, in der es viele Diskussionen gibt über Pflichten, Abstandsgebote ..., also was man alles nicht darf. Was kann die Kunst in so einer Zeit machen?
Mary Bauermeister: Zur Freiheit aufrufen. Kunst ist eigentlich eine freie Tätigkeit. Sie dient niemandem. Wenn Kunst irgendeinem anderen dient außer dem Geist, aus dem sie entsteht – inspirativ –, dann ist sie schon korrupt.
Wo ist die Widerstandskunst? Wo ist die kritische Kunst? Man sieht wenige Künstler, die sich mit dem Thema der Krise auseinandersetzen.
Ja, das war sehr viel intensiver in der Nachkriegszeit. Wir hatten die entartete Kunst, wir hatten das Verbot von Kunst. Und da gab es natürlich den Widerstand unserer ganzen Generation, die den Krieg miterlebt hat, dass wir keinem Erwachsenen überhaupt mehr geglaubt haben, auch keinem Dogma, auch keiner kirchlichen Moral. Das war ja das ganze '68. Wir haben alles infrage gestellt, weil das Desaster von zwei Weltkriegen und dann die Wiederaufrüstung eigentlich immer mehr Empörung gebracht hat. Da wurde es verpflichtend für die Kunst, in den Widerstand zu gehen. Das heißt, sich zu wehren. Und du kannst dich nur gegen etwas wehren, was dir bewusst wird. Was unterbewusst abläuft, dem sind wir alle ausgeliefert.
Es ist immer so eine Sache: Wie wirst du dir bewusst, über die nächste Stufe hinaus, welchen Ungeistern du dienst? Das ist ein spirituelles Aufwachen. Und da sehe ich in der Kunst die Möglichkeit, sich nur dem verantwortlich zu fühlen, was aus der geistigen Welt inspirativ in mich hineinkommt. Die moralische Fähigkeit der Unterscheidung lernen, denn auch ich habe lange nicht unterscheiden können. Ich habe nicht an das Böse geglaubt. Bis ich erfahren habe, es gibt das Böse als Element, nicht als Sieger des Kampfes, sondern als etwas im Grunde Fantastisches. Es ist da, damit wir erwachen. Damit unsere Erkenntnis immer kristalliner und immer klarer wird, brauchen wir das. Ohne das Böse kann kein freier Wille entstehen, kann kein Mensch in die Ich-Findung finden. Wenn wir das nicht hätten, wären wir gar nicht Mensch – wenn wir nicht ständig diese Auseinandersetzung hätten, auch moralisch zu entscheiden.
Sie haben von Fake und Wahrheit gesprochen. Diese Themen sind gerade sehr im Clinch miteinander. Es gibt eine große Krise der Wahrheitsfindung. Glauben Sie, dass wir auf einen Aufwachprozess zusteuern?
Es brauchen nur zehn Prozent aufzuwachen, das genügt. Du kannst nicht erwarten, dass alle gleichzeitig aufwachen. Du kannst nur hoffen, dass die, die die Klappe relativ aufhaben, nicht irgendwie wieder eingefangen werden. Ich spreche hier von den negierenden Kräften. Denn wie heißt es im Faust so schön: «Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.» Da ist auch die Erkenntnis der Wichtigkeit des Bösen: Letztlich, so habe ich zumindest das Gefühl, wird dieses vom Guten immer wieder eingemeindet und umarmt. Wir müssen das Böse umarmen. Wir können es nur in Liebe auflösen. Sobald wir gegenhassen oder Angst entwickeln, sind wir schon Teil des Ganzen.
Welchen Weg könnte man heute beschreiten, um die Wahrheit zu finden? Wie könnte man das auflösen, sodass die Spaltung endet und die Angst nicht gewinnt?
Durch die Liebe. Nicht durch Angst, nicht durch Gegensatz, nicht durch Kampf. Absorptio energie – absorbiere deinen Feind: Wenn du in die Reaktion gehst, hast du schon verloren. Dann wirst du Teil dessen, worauf du reagierst. Wenn du mit Wut auf etwas reagierst, hat die Wut dich bereits in ihrer Macht. Das ist eine Gratwanderung. Und gerade in einer Zeit wie heute, in der wir umgeben sind von Ablenkung und Katastrophen, ist es sehr schwierig, im Gleichgewicht zu bleiben. Und da würde ich sagen: Meditation als Flucht vor dem Alltag ist Unsinn. Aber Meditation als Möglichkeit, sich immer wieder zu sagen: Setz dich hin, fokussiere dich nach oben, sehe das als Tatsache des Weltgeschehens, und – vor allen Dingen – urteile nicht. Wir urteilen viel zu schnell. Schau es dir an, aber ver-urteile es nicht. Wenn wir nicht mehr ver-urteilen, sondern das Gute und das Böse, das Aufbauende und das Abbauende, als Strömungen des Kosmos akzeptieren, dann sind wir bei den Indern: Brahma, Shiva, Vishnu. Shiva, der Gott der Zerstörung und Brahma, der Erhalter. Das sind alles Wesenheiten. Kräfte. Die müssen sich manifestieren.
In den Medien ist immer alles ganz klar: Gut und Böse. Wie machen Sie das? Wie informieren Sie sich? Lesen Sie Zeitungen, haben Sie Vertrauen in die Medien?
Nein, nein. Wenn ich mal Lust habe, Zeitung zu lesen, tue ich das. Die Zeitung kann dann aber auch von vor zwei Jahren sein. Ich brauche mich aber nicht mehr der täglichen Misere anzunehmen. Sie nützt mir nichts. Es nimmt mir nur Energie. Wenn ich wiederum eine gute Ausstellung besuche, dann gehe ich danach raus und bin geladen. Komme ich raus und fühle mich schlapp, weiß ich – ich hab mir jetzt nichts Gutes getan. Das heißt nicht, dass die Ausstellung schlecht war, aber sie hat mir jetzt nicht gutgetan. Das Gleiche mit der Elektrik, den Handys und dem Internet. Mir geht es besser ohne.
Da gibt es auch eine gute Meditationsmethode, von der ich gerne noch erzählen würde. Sie stammt von meinem Alchemielehrer. Es gibt vier Meister-Worte: Das Erste ist «wagen, loszulassen». Mit allen Vorstellungen, Meinungen, Urteilen. Frei zu sein. Das Zweite ist «wollen, was gewollt ist». Aber im kosmischen Sinne. Zu unterscheiden: Ist das jetzt mein eigener Wille oder ist es ein höherer Wille, der aus dem Geistigen komme, dem ich dann diene. Das kann ich dann wollen und ich brauche mich nicht gegen zu wehren. Das Dritte ist «verstehen, ohne verstanden werden zu wollen». Das ist schon sehr schön. Man kann auch sagen «lieben, ohne geliebt werden zu wollen». Es ist viel wichtiger, dass du liebst, anstatt dass du geliebt wirst. Und das Letzte ist: «Schweigen, wenn Worte überflüssig sind». Weil sie entweder schon verstanden sind und man da nicht mehr drüber reden muss, oder wenn die Worte den anderen gar nicht erreichen können. Du kannst einen Menschen noch so mit der Wahrheit zulabern, oder mit der Unwahrheit – wenn du nicht in Resonanz mit ihm gehst, mit dem Menschen, ist es umsonst. Die Sprache ist wunderbar, aber du kannst auch mit der Sprache ganz schön streiten.
Wo holen Sie sich Inspiration in diesen Zeiten?
Immer in der Natur. Ich brauche nur einen Vogel zu sehen, eine Blüte zu sehen, meinen Salat anzugucken – wenn ich die Natur sehe in ihrer Weisheit, wie einen Kristall in seinen Wachstumsprinzipien, ist das so Kraft, ist das so viel. Ich spüre genau, wann ich inspiriert bin. Wann ich einer Wesenheit diene, die im Sinne der Evolution ist, oder wann ich Geistern diene, die zerstörend wirken. Meine Inspiration stammt ja auch aus einem ganz schön schweren Leben, das ich hinter mir habe, was aber gut gegangen ist. Letztlich ist alles okay. Und wenn etwas Schlimmes passiert, kann ich mir langsam angewöhnen, zu akzeptieren, dass alles, was in meinem Leben schlussendlich gut ging, anfing in der Katastrophe. Das werden dann so Regeln, die man als alter Mensch hat. Als junger Mensch hast du die noch nicht. Aber als alter Mensch hast du so oft erfahren, dass man sein eigenes Schicksal macht. Das macht kein anderer für mich. Ich allein habe meinen Schicksalsplan mit auf die Erde gebracht. Und die Welt ist nur ein Panoptikum. Da hole ich mir das, was ich brauche, als Lektionen – Unglück und Krankheit und Reichtum und Armut.
Woraus ziehen Sie Ihre Kraft?
Ich habe das Glück, in meinem Leben wunderbare Menschen kennengelernt zu haben und meine Freunde nennen zu dürfen. Und das gibt mir Hoffnung, dass die Menschheit es schafft. Und wenn sie als Maschine enden soll, dann soll sie lieber aussterben. Also, wenn der Transhumanismus das wirklich durchziehen will, dann sterben wir lieber alle aus, und dann gehen unsere Seelen auf Wartestation, bis irgendwo im Universum mal wieder ein Platz da ist, wo sie weiterlernen können. Aber dieser Unsinn, sich seinen Körper bewahren zu wollen, ihn ins Eis zu schießen, anstatt glücklich zu sein, dass wir wiedergeboren werden, dass wir einen neuen Körper in einem anderen Leben erfahren dürfen, dass wir weitermachen können … Wenn dieser Chip erst ins Hirn gepflanzt ist, ist Endstation. Dann haben sie ja angeblich alles Wissen im Kopf. Dann wird keiner mehr forschen, keiner mehr sich bemühen. Das ist das Ende der Menschheit. Kein Mensch kann sich ein Überlebensprinzip ausdenken, das funktioniert. Das ist gegen den Fluxus der Natur, gegen den Lauf der Dinge, die sich pausenlos wandeln und ändern und immer wieder neu entstehen und vergehen.
Worin sehen Sie aktuell Chancen und Risiken?
Lass einmal die Elektrizität ausfallen. Nach einer Woche haben wir Kannibalismus auf Erden. Das ist nicht wie früher, wo die Moral dich daran hindert und du dein letztes Brot mit dem Nachbarn teilst. Dann gehen die mit den Maschinengewehren aufeinander los und berauben sich. Da ist der Mensch noch nicht freiwillig mitmenschlich. Er war es – unter dem Zwang der Dogmen und der Religion. Aber alles das, was selbstverständlich ist, das muss man jetzt ohne einen Gott oder ohne einen Priester schaffen. Wir müssen eine Moral in uns entwickeln, die alle Wesenheiten, die ganze Erde, den ganzen Kosmos mit einnimmt – alles was lebt. Ja zu sagen zu dem Evolutionsprinzip, dass sich die Dinge wandeln, ändern. Und wenn wir Nein sagen, dann sind wir schon im urteilen.
Warum wollen die Menschen nicht mehr im Hier und Jetzt sein?
Weil sie das Hier und Jetzt so unerträglich gemacht haben, dass sie aus ihm flüchten müssen. Sie haben die Welt unerträglich gemacht. Guck dir mal diese Megastädte an, was da für Menschen zusammengepfercht sind. Kein Wunder, dass man in solcher Umgebung sein Bewusstsein benebelt – sei es durch das Internet, durch Drogen oder laute Musik ... Aber ich kann die Kinder nicht verurteilen. Denen ist todlangweilig. Die haben keinen Hunger, die gehen ins Bett, bevor sie überhaupt Sehnsucht miteinander haben. Ohne Sehnsucht brauchst du doch nicht ins Bett miteinander gehen. Wie viel Kultur entsteht durch Sehnsucht? Aber die fressen, bevor sie Hunger haben. Das ist doch todlangweilig. Und deshalb tun sie mir wahnsinnig leid. Ich bin so glücklich, dass ich eine so schwere Kindheit hatte, mit Krieg und Tod. Ich bin froh, weil ich den Vergleich habe. Ich weiß, was schrecklich ist.
Braucht es erst einen harten Aufprall, damit sich etwas ändert?
Es wird immer Aufprälle geben und es wird immer schlappe Zeiten geben, wo nichts passiert. Da ändert sich gar nichts mehr, denn der Mensch ist auch sehr bequem. Wenn alles gut läuft, hinterfragt er nicht. Dass jetzt man hinterfragen muss, weil uns die Natur oder wer auch immer dazu zwingt, das ist eine gute Sache.
Danke für das Gespräch.
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